Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
bei Vincent wusste«, sagte Olga, während sie die Alben der Reihe nach zurück in den Schrank stellte.
»Sie hat mir erzählt, dass sie auch an einer Reportage über Neonazis arbeitet …«
Olga hielt inne und schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist sie da auf irgendetwas gestoßen und …«
»Und was?«, murmelte Thorvald, immer noch benommen. Er hatte sich noch keinen Zentimeter gerührt. Erstrich sich das Haar aus dem Gesicht. »Lass uns hinaufgehen«, brummte er und griff nach ihrer Hand.
Als sie die letzten Fotos in die Schachtel zurücklegen wollte, blieb ihr Blick an einem Foto hängen, auf dem Ruben zu sehen war. Olga setzte sich wieder auf den Boden. Erst jetzt fiel ihr auf, dass alle Bilder, die sie bisher betrachtet hatten, nur von ihrer und Thorvalds Familie stammten. Nur die Kinder, Papas und Mamas. Die anderen Familienmitglieder kamen nicht vor. Hatte ihr Vater die Fotos vernichtet, die Vincent oder Ruben zeigten? Dieses hier hatte er offensichtlich vergessen.
Sie nahm sich die Schachtel noch einmal vor, suchte darin und fand ein weiteres Foto, auf dem Ruben lässig an das Geländer der Veranda gelehnt stand. Daneben waren zwei weitere Personen abgelichtet. Einer von ihnen war der teeniehafte Luis, mit schulterlangem Haar, zerrissener Jeans und nacktem Oberkörper, der andere saß auf den Stufen und blickte an der Kamera vorbei, eine Zigarette im Mundwinkel.
»Ohne Zweifel, Luis hatte was!«, sagte Olga mehr zu sich selbst als zu Thorvald.
»Das muss lange her sein«, sagte Thorvald müde. »Und wenn das stimmen sollte, dann hat er‘s vor mir verborgen.«
Er richtete sich auf und legte sein Kinn auf Olgas Schulter. »Ich habe aber auch was!« Er schnappte nach Olgas Ohr und wollte schon wieder in ihre Bluse greifen, doch Olga wandte sich schnell ab.
Thorvald gab stöhnend auf. »Lass mal sehen. Wer ist der andere?«
»Ich weiß es nicht. Vermutlich einer von Rubens Freunden.«
Sie drehte das Foto um. Es stand nichts darauf. Langebetrachteten sie die Menschen darauf, dann steckte Olga es in ihre Tasche.
»Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass Benno gleich hier vor der Hütte steht«, sagte Thorvald, der die Tür geöffnet hatte und auf die Veranda hinausgetreten war. »Er kommt gleich irgendwo aus einem Busch und ruft: ›Ihr glaubt ja gar nicht, was dieser Scheißkerl da unten treibt …‹ Olga, ich weiß, dass er hier irgendwo ist. Wir müssen noch mal suchen.« Thorvald dachte nach. »Roberts Steinbruch. Was zum Teufel hat Benno da entdeckt?«
Er wandte sich an Olga. Das Licht in der Hütte ließ ihre offenen, zerzausten Haare leuchten wie die einer robusten Waldelfe.
»Bist du noch fit?«
Olga sah an sich hinunter. »Fit? Ja, schon, aber … was hast du vor?«
»Wo hat dein Vater in seinem Haus die Jagdwaffen?«, fragte Thorvald.
»Im Schrank. Da, wo sie immer waren.«
»Ist der abgeschlossen?«
Olga nickte.
»Scheiße!«
»Aber ich weiß, wo der Schlüssel ist.«
Thorvald sah Olga mit schmalen Augen an. »Wir können nur beten, dass der Köter erst auftaucht, wenn wir das Gewehr haben. Und dann werden wir den Anstifter finden. Und vielleicht auch Benno.« Thorvald war zu allem entschlossen. »Okay?«, fragte er leise und strich Olga über die Wange.
Schweigend gingen sie in mittlerweile vollkommener Dunkelheit, begleitet vom Gesang des Baches und dem dunklen Ruf des Waldkauzes, den schmalen Waldwegentlang. Olga trug ihre festen Schuhe und die Taschenlampe in der Hand, die sie sich aus der Stadt mitgebracht hatte, um nachts aufs Klohäuschen zu gehen. Mittlerweile hatte sie die Lampe ständig in ihrer Umhängetasche. Thorvald hatte sich die alte Stirnlampe umgebunden, die sie in der Hütte gefunden hatten.
Olga ging voraus, Thorvald folgte in einigem Abstand. Rechts und links neben sich sah sie den Strahl von Thorvalds Lampe umherhüpfen, wie ein Irrlicht, das sie vom Weg abbringen und in den Wald locken wollte, nur um sie dann die Klippen hinabzustürzen. Plötzlich vernahm Olga ein leises Schnaufen. Sie blieb stehen.
»Warst du das?«, fragte sie ganz leise.
»Was?«
»Hast du gerade geschnauft?«
»Ja. Ich habe an morgen gedacht. An die Premiere.«
Sie gingen weiter. Ruhige, gleichmäßige Schritte. Oben auf der Anhöhe hörte Olga wieder das Geräusch. »Hast du schon wieder gestöhnt?«
»Nein.«
Sie blieben stehen. »Es war ganz deutlich«, sagte sie leise. »Es kam von rechts, aus dem Busch. Genau wie vorhin.«
Olga hielt den Atem an. Auch
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