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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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der Illusion einlullen, dass er ihm Gutes tun wollte. Es war ja auch sonst niemand da, mit dem er sich trösten konnte. Anna war in Stockholm. Und es war völlig zwecklos, mit den Kollegen darüber zu diskutieren. Sie waren einhellig der Meinung, der Typ sei genial, näher könne man Gottes Stellvertreter auf Erden kaum kommen. Seine Verteidigung war zusammengebrochen, und er hatte keine Lust mehr, so einsam zu sein. Etwas in der Aufmerksamkeit und der beruhigenden Stimme des Regisseurs war echter Freundschaft zum Verwechseln ähnlich. Und als er diesen Punkt erst einmal erreicht hatte, konnte er nicht mehr widerstehen.
    Er hat es noch vor Augen, er weiß noch jedes Wort. Er lag auf dem Boden, und der Regisseur umkreiste ihn langsam. Kreiste ihn ein.
    «Mein lieber Robert, du bist so angespannt. Schließ die Augen. Entspann dich. Lass dich im Boden versinken. Versinke. Lass los. So, ja.»
    Er hatte düstere klassische Musik angestellt. Gustav Mahler.
    «Denk an einen Raum.»
    «Einen Raum?»
    «Einen Raum, den du kennst. Vier Wände. Ein dunkler Raum.»
    «Dunkel?»
    «Es geschieht meistens im Dunkeln. Aber daran denken wir jetzt nicht. Jetzt begeben wir uns in dich hinein. In dein Gedächtnis. Es ist Abend. Vielleicht ist es Nacht? Die Wände sind grau.»
    «Ich kenne keinen solchen Raum.»
    «Entspanne dich. Atme ruhig. In diesem Raum ist etwas. Ein Schmerz.»
    «Der Zahnarzt. Haha.»
    «Ich meine echten Schmerz. Psychischen Schmerz. Wir suchen den Schmerz.»
    «Ich habe doch gesagt, dass ich einen solchen Raum nicht kenne. Ich erinnere mich an keinen Schmerz.»
    Er hatte sich aufgesetzt.
    «Leg dich wieder hin, Robert. Wir haben Zeit. Atme in den Bauch. Ein. Aus. Fang mit dem Geruch an.»
    «Welchem Geruch?»
    «Du musst dich öffnen, Robert. Lass los, werde schwer. Atme ruhig. So, ja. Vielleicht bist du noch ganz klein? Ja. Du bist klein. In diesem Raum herrscht ein ganz spezieller Geruch. Vielleicht magst du diesen Geruch? Öffne dich. Atme. Hör auf die Musik. Gut, Robert. Ich sehe, dass du dich entspannst. Du betrittst den Raum. Du nimmst diesen Geruch wahr. Ist es der Geruch von Essen? Ist er süß? Wie Kekse? Oder eher angebrannt? Vielleicht Fleisch?»
    «Vielleicht.»
    «Du brauchst nicht zu antworten. Stell dir das Licht in diesem Raum vor. Da ist doch Licht, obwohl es schon Abend ist, oder? Es ist nicht
vollkommen
dunkel?»
    «Nein.»
    «Eine Lichtquelle. In dem Licht siehst du etwas. Was siehst du?»
    «Ein schräges Licht. Drumherum ist es dunkel.»
    «Keine Farben? Stell dir die Farben vor, Robert. Die Farben liegen weit hinter deinen Augen. Aber jetzt kommen sie wieder hervor. Welche Farben siehst du?»
    «Schwarz. Weiß. Rot. Viel Rot.»
    Er wand sich auf dem Boden. Kauerte sich zusammen.
    «So viel Rot habe ich noch nie gesehen.»
    «Du weinst. Das ist gut.»
    Er lief zur Toilette, kotzte. Weinte, konnte gar nicht mehr aufhören. Es gab keinen Grund, zu kotzen oder zu weinen. Es waren doch nur Farben. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, ging wieder hinein, legte sich auf den Boden.
    «Atme tief ein und aus. In den Bauch. Schön. Können wir das Gefühl wieder einfangen, das Gefühl, das du hattest, kurz bevor du rausgegangen bist? Den Raum. Den Lichteinfall. Schwarz, weiß, das viele Rot. Die Farben. Siehst du sie jetzt?»
    «Ja.»
    «Gut. Ich kann sehen, dass du sie siehst. Und jetzt sprich den Monolog. Erster Akt, zweite Szene.»
    O schmölze doch dies allzu feste Fleisch,
    zerging’ und löst’ in einen Tau sich auf!
    Oder hätte nicht der Ewge sein Gebot
    gerichtet gegen Selbstmord! O Gott! O Gott!
    wie ekel, schal und flach und unersprießlich
    scheint mir das ganze Treiben dieser Welt!
    Pfui, pfui darüber! ’s ist ein wüster Garten,
    der auf in Samen schießt; verworfnes Unkraut
    erfüllt ihn gänzlich. Dazu musst es kommen!
    Zwei Mond erst tot! – Nein, nicht so viel, nicht zwei!
    Solch trefflicher Monarch, verglichen diesem,
    Apoll bei einem Satyr! So meine Mutter liebend,
    dass er des Himmels Winde nicht zu rau
    ihr Antlitz ließ berühren. Himmel und Erde!
    Muss ich gedenken?
    Er hatte sich durch den gesamten Monolog geschluchzt. Aber der Regisseur lächelte zufrieden. Endlich
hatte
er es. Er hatte es gefunden. Danach kam es wie von selbst. Er brauchte nur die Worte zu sagen, und das Gefühl war da. Aber Robert hatte es nicht unter Kontrolle.
    Der Zwischenfall auf der Premiere war unwesentlich. Aber auf einer der Proben war er wirklich nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen.

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