Der Wald wirft schwarze Schatten
Welt, der fest zu sein scheint – ein kleiner Fleck in der Ferne. Leuchtend und rot. Manche würden sagen, es sei ein Knopf, den man drücken kann. Aber das ist gelogen, es ist ein Himmelskörper. Er heißt Abendstern und ist wunderschön. Sie saust davon in ihrem Bett. Sie reist.
Sie reist zu einem Leben vor langer Zeit. Einem Leben, in dem sie jung und makellos war und es Möglichkeiten gab. Möglichkeiten? Sie liegt in einem Bett mit einem Säugling neben sich. Ein neuer kleiner Mensch im Bett. Sie sieht sich selbst dort liegen, mit dem Kind im Arm. Sie hat ein schönes, aber ausdrucksloses Gesicht. Wer bist du? Was denkst du? Kannst du dir vorstellen, dass du eines Tages in einem ähnlichen Bett liegen und schrumpelig, weißhaarig und verwelkt sein wirst? Dass du in einem Bett liegst und älter als alle Berge bist und zwischen leuchtenden Himmelskörpern schwebst?
Die junge Frau hat ein Kind bekommen. Kein Wunschkind. Aber sie hat es geboren, und es gehört ihr, wie niemand sonst ihr gehört. Nicht einmal sie selbst. Sie ist den Umständen ausgeliefert. Sie war in anderen Umständen. Jetzt sind sie verändert. Das Kind ist herausgekommen, sie und der kleine Junge sind eine Familie. Ihre eigene Familie hat sie verstoßen. Sie ist allein in der Stadt und wurde schon oft schief angesehen. Sie weiß, was die Leute denken, denn sie ist nicht dumm. Ist es das Kind des Feindes? Der Besatzungsmacht? Das Kind eines einfachen Gefreiten oder eines SS -Offiziers in schwarzer Uniform mit Totenschädeln an der Mütze? Das ist es nicht, wird sie sagen. Es ist das Kind eines Opfers. Sie schreibt es auf Papier, füllt ein Formular aus. Name des Vaters. Aleksej Dimitrov, geboren in Borova, Ukraine. Gestorben in … Sie schreibt es hin und denkt nicht mehr an ihn. Wird niemals mehr denken.
Sie ist jung, sie ist hübsch, sie ist Mutter eines Kindes. Sie hat es sich nicht gewünscht, aber das Kind ist ihres, und es ist neu. Es ist ein Anfang. Jetzt gibt es nur uns zwei. Sie drückt es fester an sich. So hält man ein Kind. Sie zeigt vorbildlich, wie ein Säugling gehalten wird. Aber ihre Arme sind steif und verkrampft in einer gestellten, unechten Pose.
Sie blickt auf und schaut aus dem Fenster. Der Himmel ist grau, es schneit. Sie kann ein Hausdach sehen, weiß von Schnee, ein paar schwarze Schornsteine ragen heraus. Neben dem Dach ist ein Baum. Die Äste sind starr, schwarz und knorrig. Wie leere, gespreizte Finger. Es ist keine Bewegung darin. Sie halten nichts, nur Luft. Und vielleicht die eine oder andere Schneeflocke, der es gefällt, sich dort niederzulassen.
Sie sieht wieder hinunter auf den Kleinen. Er ist so deutlich von ihr getrennt. Ein fremdes Ding. Es könnte alles Mögliche sein. Eine Katze. Ein Hund. Ein Huhn. Warum ist ausgerechnet das ihr Kind? Der kleine Kopf ist voller dicker, schwarzer Haare. Die Augen sind schmale Schlitze mit einer dunkelblauen Iris. Die Finger sind ganz klein, aber sie bewegen sich trotzdem, als wollten sie nach etwas greifen. Der winzige Mund wimmert, keucht leise, sucht ihre Brust. Sie spürt den Druck in ihren Brüsten. Spürt, dass sie Milch hat. Aber die Arme, die das Kind halten, sind wie die Äste des Baumes dort draußen. Die Finger sind wie die Zweige. Sie sind steif. Es ist keine Bewegung darin, obwohl sie so jung und glatt sind.
Die Säuglingsschwester kommt ins Zimmer, fragt: Wie geht es Mutter und Kind? Ich fürchte, ich kann ihn nicht stillen, seufzt Evelyn und verzieht den Mund zu einem bedauernden Lächeln. Sie hält das Kind der Schwester entgegen, die es mitnimmt und auf die Säuglingsstation bringt. Dann dreht sie sich mit prallen, schmerzenden Brüsten zur weißen Wand. Sie streicht mit den Fingern darüber. Die Wand ist rau, kühl und fest.
Als sie aufwacht, ist das Krankenhaushemd kalt und klitschnass. Durchtränkt von Milch. Sie wird ihn weggeben. Soll die Schwester ihn doch behalten. Aber sie tut es nicht. Sie weiß nicht genau, wieso. Er ist jemand. Er ist immerhin jemand, in dieser Stadt, in der sie keine Menschenseele kennt, in der es niemanden gibt, zu dem sie gehen kann.
Sie zeigen ihr, wie man eine Mischung aus Kuhmilch, Wasser und Malzextrakt anrührt. Er nimmt alles, was sie ihm anbietet, saugt es gierig in sich hinein. Die Brüste hören auf zu spannen und schrumpfen wieder. Sie legt das Kind in einen Korb und verlässt das Krankenhaus. Geht zurück in das kleine Haus, das sie kürzlich gekauft hat, und darauf ist sie stolz: Das Haus ist schön,
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