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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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Es hätte ihn sogar den Job kosten können. Wenn die anderen gewusst hätten, wie es in diesem Moment um ihn stand, hätte man ihn eingewiesen. Er war der
tatsächlich
wahnsinnige Hamlet, der das sah, was sonst niemand wahrnahm. Keinen Geist, wie in der Szene, aber Bilder und Ahnungen, die schlichtweg beunruhigend waren. Und deshalb hatte er den Text nicht weitergesprochen, wie die Rolle es vorsah, sondern ihn Königin Gertrude unzusammenhängend ins Gesicht gebrüllt. Er hatte sie viel zu heftig geschüttelt und von sich geschleudert. Sie war hart gegen einen Tisch gefallen und schmerzgekrümmt liegen geblieben. Aber er störte sich nicht daran. Der Wahnsinnige fuhr fort, riss eine Kulisse nach der anderen um, zerschlug einen der Stühle und schmetterte den Kerzenleuchter an die Wand, sodass er Polonius um ein Haar wirklich erledigt hätte.
    Danach war er auf dem Boden zusammengesunken und unkontrolliert schluchzend liegen geblieben, bis schließlich irgendjemand den Schock überwand, zu ihm herüberkam und sich über ihn beugte. Ist alles in Ordnung? Unsicher rappelte er sich auf und war wieder zurück. Er begegnete den Blicken, den erschrockenen Gesichtern. Er war wieder in der Gegenwart, öffnete den Mund und stieß sein warmes Lachen hervor, sein breites Lächeln und war wieder der charmante Sunnyboy, dem alle zu Füßen lagen. Er lachte, als sei alles Absicht gewesen. Hab nur ein bisschen übertrieben, um zu checken, wie weit ich gehen kann. Es tut mir leid, dass du dir wehgetan hast, das wollte ich nicht. Hatte die ganze Zeit alles unter Kontrolle. Alles unter Kontrolle. Die verschreckt aufgerissenen Augen der anderen blickten schon kurz darauf wieder völlig normal. Irgendwer hatte ihm sogar auf den Rücken geklopft und gelacht. Da hast du uns echt drangekriegt. Sie wirkten überzeugt. Abgesehen vom Regisseur natürlich, der dasaß und krank grinste, als hätte er endlich erreicht, was er wollte – nämlich zu sehen, wie Robert Wonderboy endlich zusammenbrach und in authentische mentale Schieflage geriet.
    Er konnte nicht sagen, was in ihn gefahren war, nur dass er einen nahezu unerträglichen Schmerz verspürt hatte. Als er versuchte, sich an den Vorfall zu erinnern, waren die Bilder in seinem Kopf undeutlich. Er wusste, dass er den Kerzenleuchter geworfen und die Königin weggestoßen hatte. Trotzdem kam es ihm vor, als wäre er bewusstlos, in einem Traum gewesen. An einem Ort, an dem wirklich das Licht flackerte und die Dunkelheit undurchdringlich war. Mit Seen aus Rot. Einem Meer von Blut.
    Still, nein, nicht mehr daran denken. Nicht denken. Er wird ruhig in der kleinen Hütte tief im Wald sitzen, bis diese Nacht vorüber ist. Es wird eine gewöhnliche, stille Nacht. Es werden keine Monster befreit. Nichts zu befürchten. Er blickt hinab auf Lukas. Das Kind schläft so friedlich. Er streicht ihm über den Kopf und singt leise die schöne Melodie aus dem Stück, Ophelias Lied.
    Sie trugen ihn auf der Bahre bloß
    und manche Trän fiel in Grabes Schoß.
    Fahr wohl, meine Taube!
    Und kommt er nicht mehr zurück?
    Und kommt er nicht mehr zurück?
    Er ist tot, o weh!
    In dein Todesbett geh,
    er kommt ja nimmer zurück.
    Er schließt die Augen und sieht das Bühnenbild vor sich. Geniale Szenographie. Es ist unglaublich originell, echtes Wasser einzusetzen. Shakespeares königlicher Fluss wurde zum Luxus-Pool der Gegenwart. Das Wasser war nicht tief, aber es war ein echtes Becken, mit blaugrünem Wasser und Fliesen. Man braucht nicht viel Wasser, um zu ertrinken. Da reicht schon ein Waschzuber. Und es war extrem überzeugend, wie Ophelia dort lag, so überzeugend, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Im Becken war ein Luftrohr angebracht, damit sie lange mit dem Gesicht nach unten daliegen konnte. Sie sah so unglaublich tot aus, als sie aus dem Wasser gezogen wurde. Schrecklich bleich, beinahe violett in dem nackten Licht. Natürlich lag es nur an der Schminke und der Beleuchtung. Sie stand ja nach jeder Vorstellung wieder auf. Stand immer wieder auf. Nur in der Wirklichkeit fallen die Menschen. Fallen um und bleiben liegen.
    Aber hier wird nicht gefallen. Hier wird auch nicht mehr getrunken. Obwohl er sich am liebsten die ganze Flasche hinter die Binde kippen und sinnlos betrinken würde. Er wird wach bleiben, aufmerksam, auf der Hut sein. Wird sich eins nach dem anderen vornehmen. Die kleinen praktischen Aufgaben. Er schraubt den Wodka zu, steht unsicher auf, greift nach dem Wasser und schüttet

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