Der Wald wirft schwarze Schatten
ein Glas in sich hinein. Er trinkt noch ein weiteres Glas, dann hebt er Lukas vom Bettsofa hoch, trägt ihn in das kleine Schlafzimmer und legt ihn vorsichtig in das Kinderbettchen. Der Junge dreht sich um, murmelt etwas im Schlaf und drückt den Kuschelhund an sich. So schlafen zu können.
Er sammelt die Sachen auf, die Lukas im Laufe des Nachmittags um sich herum verstreut hat. Legt die Micky-Maus-Hefte in die Schublade. Räumt die Klamotten zurück, die Lukas an den Haken und in den Schubladen gefunden, anprobiert und dann auf dem Bett verteilt hat. Regensachen, Gummistiefel, Wollpullover. Den kleinen grünen Anorak, der aussieht wie selbstgenäht.
Er hebt ihn auf und will ihn gerade an den Haken hängen, als er ein Namensschild darin entdeckt, ein kleines verknittertes Namensschild, das als Aufhänger dient. Weiß mit roter Schrift. Er zieht es mit den Fingern glatt. Bobo steht da.
Bobo.
«Scheiße», sagt er und spürt, dass es ihm kalt den Rücken hinunterläuft. Spürt, dass sein Hals trocken ist. Spürt, wie sein Herz hämmert, sein Atem immer schneller geht. Verdammte Scheiße. Es war hier. Oder nicht? Es. Was,
es
? Er weiß es nicht, kann sich nicht erinnern. Aber er ist schon einmal hier gewesen, vor langer Zeit, oder nicht? Er war schon einmal hier. Damals, als er noch in diesen kleinen Anorak und die winzigen Gummistiefel gepasst hat.
Er greift nach dem hellblauen Stoffkaninchen, dreht es in den Händen. Er kennt es, oder nicht? Doch. Er mochte dieses Stoffkaninchen, liebte es, liebt. Es heißt Petter Kaninchen und ist sein Lieblingskuscheltier. Er betrachtet Petter Kaninchen und seine Hand, die das weiche Spielzeug hält. Sie ist klein, seine Hand. Oder nicht? Klein, weich und rund. Schwankend dreht er sich um, und im selben Moment fällt sein Blick auf den gesprungenen Rahmen und den Spiegel – er ist beschlagen. Er kann sein Gesicht darin nur erahnen, es ist klein und rund, das Gesicht eines Kindes. Er starrt es an und meint plötzlich hinter seinem Gesicht ein anderes zu erkennen. Das Gesicht einer Frau. Jung, schön, blond. Ihm wird schwarz vor Augen. Er hört einen Schrei und taumelt aus dem kleinen Zimmer in die Wohnstube.
Er sieht einen Schaft, ein großes, schweres Ding und eine Gestalt, riesig und dunkel. Augen wie schwarze Löcher, ein geiferndes Maul, darunter ein Fluss von Blut. Ein Mann. Nein – der Finsterling! Er sieht hinunter, und da liegt sie, die er am meisten liebt, die Helle, Schöne, zerschlagen in ihrem Blut. Der Boden ist voller Blut. Mama! Bobo im Schlafanzug drückt sein Kaninchen an sich und schreit. Und dann wird es ihm aus den Händen gerissen. Er weiß, wie das Kuscheltier schmeckt, jetzt erinnert er sich. Staub, Trockenheit und künstliches Fell. Das Kuschelkaninchen vor seiner Nase, vor seinem Mund verhindert, dass er schreit, dass er atmet. Dass er hinsieht. Er hat lila Flecken vor den Augen, bald ist alles zu Ende. Aber der Finsterling lässt von ihm ab. Seltsamerweise lässt er von ihm ab. Bobo windet sich los, ringt nach Atem, läuft zur Tür, aber der Finsterling ist schneller, ist wieder da, jetzt holt er sich ihn. Er versperrt ihm den Weg, groß und massig, greift mit den Armen nach ihm, versucht ihn zu fangen, aber er entwischt, klein, geschmeidig und schnell. Möbel kippen um, ein Glas zerspringt. Er tritt mit nackten Füßen hinein, es tut fürchterlich weh. Mama, hilf mir, Mama. Aber sie liegt bloß mit starrem Blick im roten Meer, blinzelt einmal und bewegt die Lippen, erst kommt nur Blut aus ihrem Mund, dann flüstert sie: Lauf, mein Schatz. Bobo, lauf. Mit aller Kraft drückt er sich gegen die Tür und stürzt hinaus in die Dunkelheit. Er läuft, stolpert, fällt, läuft weiter, der Untergrund ist uneben, und er kann nicht sehen, wohin er tritt, oft ist es tief, Löcher im Boden, Matsch. Er stolpert über Steine, Heidekraut und Wurzeln. Wieder fällt er, schrammt sich auf, aber kommt wieder auf die Beine. Er läuft weiter in den Wald, tiefer und tiefer hinein in die Dunkelheit. Sein Herz schlägt so laut, aber die Rufe hinter ihm entfernen sich, werden schwächer. Ich werde dich schon kriegen, ich finde dich! Irgendwann finde ich dich!
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28
Wie weich das Bett ist, so sanft. Aber nicht mehr weiß in der blauschwarzen Nacht. Das Bett ist dunkel wie eine Gewitterwolke. Um sie herum ist ein Abgrund, der Boden Kilometer entfernt. Sieben weite Himmel. Evelyn schwebt. Sie hängt in der Luft. Es gibt nur einen einzigen Punkt in dieser
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