Der Wald wirft schwarze Schatten
verlassen.
«Allein», murmelt er. So ist es, vollkommen allein zu sein. Und wieder spürt er das Unbehagen. Muss sich beherrschen, darf jetzt keine Angstattacke kriegen. Er horcht noch einmal, starrt in die Finsternis.
«Hallo?», sagt er leise.
Als ob er eine Antwort erhalten würde. Als ob die steifen Bäume etwas erwidern, mit den Kronen nicken würden. Aus den Augenwinkeln sieht er einen Schatten. Einen Schatten? Unsinn. In der Nacht ist alles nur Schatten, es wird nicht dunkler.
«Natürlich nicht», sagt er ein wenig lauter. Alles nur Einbildung, Phantasie. Die Fähigkeit, so gut zu lügen, dass man es selbst glaubt. Die Fähigkeit des Schauspielers zur Autosuggestion ist ein Berufsleiden, ohne Frage.
Das Unwirkliche, das Unsichtbare, das, was in seiner Vorstellung, seiner Phantasie vor sich geht, hat er immer am meisten gefürchtet. Als ob dort drinnen irgendetwas schlummern würde. Noch ungeboren, aber dabei, sich zu entwickeln. Das Ei eines Aliens. Der Keim von etwas Schrecklichem, das das Vermögen hat, zu wachsen, lebendig zu werden. Die Albträume, die sich immer wiederholen und sich ihm doch nie offenbaren und sagen, was es mit ihnen auf sich hat. Weil sie nicht von
Bedeutung
sind, sagt er sich. Nur Hirngespinste. Der gesammelte Müll des Tages. Sie sind nicht gefährlich. Kein Problem.
Er geht wieder in die Hütte, zieht die morsche Tür hinter sich zu und überlegt, ob er trotzdem ein paar Möbel davor aufstapeln soll. Er entscheidet sich dagegen. Die Ausgeburten seiner Phantasie können so eine jämmerliche Barriere wie die Tür ohnehin mit Leichtigkeit überwinden. Versperrte Türen halten die Leute nicht davon ab, überzuschnappen, geschlossene Räume kurieren sie nicht. Wohl eher im Gegenteil. Er setzt sich wieder auf das Bettsofa, neben das schlafende Kind.
Die schwarze Probebühne war ein solcher Raum, und der Regisseur war der Erwecker dieses Raums. Er hat herumgeschnüffelt und in den Schauspielern nach ihrem «wahren» Charakter gegraben. Er hat nicht lockergelassen. Hat sie sich einen nach dem anderen vorgenommen. Wie soll man diese privaten Séancen eigentlich nennen? Eine Art umgekehrte Therapie? Die krude Behandlungsmethode eines Psychiaters, der den Wahnsinn lieber wecken als heilen will, indem er den Patienten, einen an sich gesunden Menschen, dazu bringt, sich einzubilden, dass er in Wirklichkeit große psychische Probleme hat, die auf verdrängte traumatische Erlebnisse zurückzuführen sind und jetzt um jeden Preis ans Tageslicht geholt werden sollen. Eine Behandlungsmethode, deren Ziel die «Befreiung» des sogenannten Gedächtnisses ist. Der Regisseur hat es «die versiegelten Erinnerungen des Körpers» genannt. Sie sollten so stimuliert werden, dass sie nicht in ihren Dämmerzustand zurückfallen konnten, sondern sich öffneten wie riesige, abscheuliche Blumen, die anschließend auf der Bühne zur Schau gestellt würden.
Dass Robert Widerstand leistete, ist sicher bloß ein zusätzlicher Ansporn gewesen. Es hatte sogar den Anschein, als sei gerade das der größte Spaß an seinem Regieverbrechen. Er war wie ein Bluthund, absolut überzeugt, dass es auf dem Grund des «oberflächlichen» Robert eine schmerzerfüllte Tiefe gab, die er freischaufeln könnte. Das hat er auch geschafft, und wie. Auch wenn Robert nicht benennen kann,
was
dort
eigentlich ist. Aber eines ist sicher: Es ist der Grund dafür, dass er kurz vor einem Zusammenbruch steht. Der Mensch, der er bislang gewesen ist, mit all seinen Handlungsmustern, sowohl auf der Bühne als auch im wirklichen Leben, wurde auseinandergepflückt, bis ins kleinste Detail auseinandergenommen. Er fühlt sich nicht mehr wie der Mensch, den er kannte, die Figur, die er war, sondern wie ein Haufen zerrissener Lumpen.
Er kann sich gut an den Tag erinnern, als es sich «löste». Oder war es vielleicht am Abend gewesen? Die Probebühne hat keine Fenster, sodass man nicht weiß, welche Tageszeit es ist. In der intensivsten Zeit der Proben gingen Tag und Nacht nahtlos ineinander über. Aber dem Regisseur ging der Atem nie aus. An diesem Abend – oder Tag – war seine sonst oft höhnische oder herablassende Stimme weich und beruhigend, beinahe liebevoll. Und Robert fühlte es, er brauchte eine solche Stimme. Er konnte keinen Widerstand mehr leisten. Schaffte es nicht mehr, diesen Mann auf Abstand zu halten, indem er sich immer wieder sagte, dass er nur auf einem geisteskranken Egotrip war. Nein, schließlich ließ Robert sich von
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