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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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genauso gestresst wie vorher. Der Mund ist trocken, der Magen nervös, und das Herz schlägt spürbar in der Brust. Er muss sich zusammenreißen, sich festhalten. Alles wird gut, wenn er sich nur konzentriert. Aber worauf? Hätte er seinen iPod mitgenommen, könnte er jetzt die Augen zumachen, sich zurücklehnen und die baufällige Hütte im stockdunklen Wald einfach vergessen. Könnte einer beruhigenden und wohltuenden Stimme lauschen. Bob Dylan oder Cornelis Vreeswijk. Tracy Chapman. Stattdessen sitzt er hier, vollkommen verkrampft, und betrachtet die Dinge um sich herum. Starrt sie an. Das Stickbild, den Elch im Sonnenuntergang, das Plastikobst, die orangefarbene Kaffeekanne, die Tischdecke. Warum bildet er sich ein, dass ihm all das bekannt vorkommt? Das ist doch Unsinn. Er muss versuchen, das Komische an der Situation zu sehen. Da unternimmt er einmal einen richtigen Ausflug mit Lukas, und dann landen sie ausgerechnet hier. Nachdem sie knapp drei Stunden an haufenweise schönen Plätzen vorbeigefahren sind, ist das Ziel der Expedition ein schimmeliger Schuppen. Ausgerechnet hierher bringt er sein Kind, lässt den Jungen ausgerechnet hier schlafen. Das ist doch absurd.
    Ebenso absurd ist es, denkt er, dass die Hütte, obwohl sie offensichtlich jahrelang völlig unberührt hier gestanden hat, trotzdem verfallen ist. Als ob die Zeit an den Dingen zieht und zerrt, sie aufreibt und in Stücke reißt. Ob es mit Menschen auch so ist? Endet man, wenn einen niemand anrührt, wenn man unberührt bleibt, wie eine verfallene Zeitkapsel? Wie ein Segelschiff, das auf ein Riff gelaufen und vor einer Ewigkeit gesunken ist. Von allen vergessen, außer von der Zeit, die an den Segeln zerrt. Ebbe und Flut, die Tag für Tag hinein- und wieder herausströmen.
    Er schaut hinüber zur Tür und fragt sich, ob man sie fester schließen kann. Immerhin ist es möglich, dass Meister Petz sich in der Nähe herumtreibt. Was, wenn er jetzt auftaucht und die Hütte plattmacht, wie den kleinen Wald da draußen? Wenn er an den Wänden kratzen und die Tür aufstoßen würde? Kleines Schweinchen, kleines Schweinchen, lass mich rein, lass mich rein. Sie hätten keine Chance. Für ein Tier mit
solchen
Kräften stellt es kein Problem dar, die morsche Tür aus den Angeln zu heben oder sich mit seinem ganzen Gewicht gegen eine der altersschwachen Wände zu lehnen und sie umzuwerfen. Kein Problem, sie beide mit seinen riesigen Tatzen umzuhauen, sie bewusstlos zu schlagen und zu zerfleischen, sie mit seinen Krallen aufzureißen und ihre Gedärme auf dem Boden zu verteilen. Still jetzt, da ist kein Bär. Aber er kann ja sicherheitshalber eine Runde drehen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist, ehe er schlafen geht. Soweit das an diesem gottverlassenen Flecken Erde überhaupt möglich ist.
    Er schiebt den schlafenden Jungen vorsichtig von seinem Schoß, bewegt sich zur Tür. Bei jedem Schritt gibt der Boden nach und knarrt schrecklich. Er öffnet die Tür, bleibt schwankend auf der Schwelle stehen, lauscht. Nur leichtes Blätterrascheln vom Wind. Nur das Flattern eines Vogels. Und dann ist es still. Er saugt die kühle Waldluft ein und sagt sich, dass er sie genießen sollte, so rein und würzig. Heide und Moos, Kiefern und Gagel, all die Gewächse hier draußen. All das lebt und wächst.
    Es ist so dunkel, dass er die schwarzen Silhouetten der Bäume vor einem etwas weniger schwarzen Himmel nur erahnen kann. Es ist fast sternenklar, der Mond hinter eine Wolke. Aber die Augen können sich an die Dunkelheit gewöhnen. Dann wird er keine Angst haben.
    Er öffnet den Hosenschlitz und pinkelt von der Treppe aus in einem langen Strahl ins Heidekraut. Ich bepiss mich gleich vor Angst, denkt er und versucht, über seinen eigenen Witz zu lachen. Nicht laut werden. Allein der Gedanke an die eigene Stimme reicht aus, um ihn beinahe zu lähmen. Wie einsam sie klingen würde. Allein und gellend, wie die eines Verrückten. Wie in dem Film, den er vor langer Zeit einmal gesehen hat, über einen Mann, der verrückt wird und seine Familie in Angst und Schrecken versetzt. Und dann wird sein Sohn ebenfalls verrückt. Heilige Scheiße. Stopp. Die Dunkelheit ist lediglich eine banale Konsequenz der Tatsache, dass die Erde eine Kugel ist, die sich dreht, und dass die Sonne sich in diesem Moment zufällig gerade auf der Rückseite befindet. Trotzdem. Da ist noch etwas anderes. Es liegt an der Stimmung hier, dem Luftzug. Ein Hauch von Ödnis. Hoffnungslos und

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