Der Wald wirft schwarze Schatten
selbst erstaunt über ihre Tatkraft, und drückt auf den Abendstern. Zuerst kommt nur eine Schwester, kurz darauf kommen noch zwei. Sie schalten das Licht an, laufen rein und raus, während sie alles tun, um das Leben der Frau im Nachbarbett zu retten.
Hast du jemals Erde geschmeckt? Hast du jemals den Mund so weit aufgerissen, wie du kannst, und eine Handvoll Erde hineingesteckt? Schwarzbraune Erde, fett und feucht, schwer und nass. Eine wunderbare Mischung aus organischem und anorganischem Material, aus Sand, Lehm und Torf, Partikeln von kleinen Steinen, Laub und Gras. Aus verrotteten Früchten und den Körpern toter Tiere. Alles in Bewegung, weil Regenwürmer, Käfer und Tausendfüßler sie verzehren und wieder ausscheiden und sich Millionen Mikroorganismen hindurchdrängen, die Reste mit Schimmel und Fäulnis infizieren, sie umwälzen und vermengen. Bis alles so braun wie Scheiße ist. Porös, fruchtbar und weich. Wer sagt, die Erde würde nicht leben?
Sicher habe ich geschrien, als es passierte, als ich mit offenem Mund dalag und schaufelweise Erde abbekam. Ich schaffte es nicht, den Mund zu schließen, der Kiefer war ja gebrochen. Es schmeckte nach Eisen, Rinde und Nüssen. Faulig und gleichzeitig frisch. Manchmal vermisse ich diesen Geschmack. Kannst du dir vorstellen, dass ich sogar das vermisse? Mit der Zunge ein bisschen feuchte Erde von den Fingern zu lecken. Den herben Geruch bis in die Lungen zu spüren.
[zur Inhaltsübersicht]
29
Er lässt den Wagen auf dem Wendeplatz ausrollen und stellt den Motor ab. Schüttelt den Kopf. Genug. Genug jetzt. Die erlöschenden Frontlichter lassen die Dunkelheit herabfallen. Wilhelm öffnet die Tür, steigt aus, sucht die Stirnlampe aus dem Rucksack hervor. Er geht zu dem anderen Auto, das dort parkt, leuchtet hinein. Ein paar leere Limoflaschen, Schokoladenpapier, eine zusammengeknüllte Papiertüte. Sicher nur Wanderer. Vielleicht Jäger auf Elchjagd. Oder ob hier Hütten gebaut worden sind? Eine Anlage mit Freizeithütten genau an der Stelle. Um Gottes willen.
Er geht zurück zu seinem Auto, nimmt den Rucksack heraus und kontrolliert systematisch den Inhalt. Schlafsack, Isomatte, Proviant, Wasser und Benzin. Er fasst in die Brusttasche, da sind die Zigaretten und die Streichhölzer. Macht die Autotür leise zu, schließt ab. Er richtet den Lichtkegel auf die rechte Seite des Wendeplatzes, findet den Hang, findet die Kiefer, wo der Pfad beginnt, und zwängt sich durch das Gestrüpp bergauf. Kein Problem, den Weg zu finden. Er kennt hier jeden Stein, jede Baumwurzel. Die Kiefer stirbt, die Rinde blättert schon ab. Der graue Stamm darunter ist entblößt, knochenweiß im Lichtkegel der Lampe. Er geht weiter aufwärts, zwischen den Bäumen hindurch über das moosbewachsene Gelände.
Sie geht vor ihm auf dem Pfad. Ihr Hinterkopf, das blonde Haar. Als wäre sie eine Fremde. Gott weiß, was du
wirklich
dachtest,
wirklich
fühltest.
Sie waren sonst immer vormittags gekommen. Aber diesmal, das letzte Mal, kamen sie spät am Abend an. Es war stockdunkel, während sie den Pfad hinaufgingen. Vielleicht war das der große Fehler. Vielleicht war das der Grund, warum alles schiefging. Es war von Anfang an eine anstrengende Fahrt gewesen. Und daran war der Junge schuld. Erst hatte er sich heftig gestoßen. Wollte absolut nicht mitfahren. Jetzt, da sie für immer in den Wald zogen.
Sie hatten die meisten ihrer Habseligkeiten eingepackt. Zu Hause in der Wohnung wartete noch eine Ladung. In ein paar Tagen würden sie hinfahren und den Rest holen. Einiges sollte mit hierher, anderes sollte eingelagert werden. Die Wohnung in Ammerud hatten sie gekündigt.
Sie hatten den Jungen ins Auto gesetzt und waren noch mal in die Wohnung gegangen, um die restlichen Sachen zu holen. Aber als sie wieder hinunterkamen, war er spurlos verschwunden. Er hatte sich natürlich versteckt. Der verdammte Bengel hatte eine neue Stelle gefunden, hinter dem Müllverschlag. Sie suchten eine halbe Stunde, bis sie ihn endlich fanden und den brüllenden Jungen zum Auto trugen. Aus dem er sofort wieder entwischte, kaum dass sie ihn hineingesetzt hatten. Diesmal fing er ihn eigenhändig wieder ein und gab ihm einen ordentlichen Klaps, ehe er ihn auf dem Sitz festschnallte. Der Junge heulte immer noch, nicht lauthals wie zuvor, sondern wimmernd. Elise ertrug das nicht. Sie musste ihn unbedingt trösten, obwohl er es verdient hatte, und tröstete ihn noch, lange nachdem er sich beruhigt hatte.
Als sie
Weitere Kostenlose Bücher