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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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friert, obwohl er alle Kleider anhat. Durch die dünnen Socken spürt er den kalten Boden. Er versucht, seine Turnschuhe zu finden, aber sie sind in der Dunkelheit verschwunden. Er tastet sich vor zur Tür, schaut in das andere Zimmer. Dort ist es auch dunkel. Stockfinster. Die T-Shirt-Lampe ist ausgegangen.
    «Papa?»
    Er wartet einen Augenblick.
    «Papa!»
    Keine Antwort.
    «Das ist, weil er schläft», flüstert Lukas Wolf zu. Er tapst durch den Raum, stolpert aber über irgendetwas. Scheint ein umgekippter Stuhl zu sein. Lukas stellt ihn wieder auf, dann beugt er sich über das Bettsofa.
    «Papa?», sagt er vorsichtig und streckt die Hand aus, um ihm über den Kopf zu streichen. Und da fühlt er, dass dort nur die Kissen und der Schlafsack liegen und kein Papa, und dann sieht er, dass die Tür einen Spalt offen steht. Er schiebt sie ganz auf und schaut hinaus in den Wald. Seine Augen haben sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt, er kann ein paar Einzelheiten ausmachen. Er kann die Bäume und das Heidekraut erkennen, einen morschen Baumstumpf, einige Steine und den umgefallenen Baum.
    Aber Papa sieht er nicht.
    «Papa!», ruft er.
    Lukas drückt Wolf an sich. Drückt ihn und streichelt seinen Kopf.
    «Du brauchst keine Angst zu haben», sagt er zu Wolf. «Papa macht bestimmt nur einen kleinen Spaziergang. Aber wir werden ihn schon finden.»
    Lukas stapft in die Nacht hinaus. Die Heide steht hoch, sie reicht ihm bis zu den Knien. Es ist eklig, ohne Schuhe hindurchzugehen. Er weiß ja nicht, was darunter ist – es könnten Ameisen oder Kreuzottern sein. Das Heidekraut und die Fichtennadeln stechen durch seine dünnen Socken. Aber er wird sich nicht fürchten. Er geht am Baumstumpf vorbei. Von dieser Seite sieht er aus wie ein Monster, aber er bewegt sich nicht. Deshalb kann er ihn nicht fangen. Sie gehen zur Senke hinter der Hütte und weiter zwischen den Bäumen hindurch, wo der Wald dicht und tief wird. Die Bäume sind groß, und die Zweige berühren ihn, aber die Stämme sind stark und vertrauenerweckend. Lukas geht unter einen Baum und umarmt ihn kurz. Er kann die Hütte noch immer sehen. Aber wenn sie ein Stückchen weitergehen, wird sie unsichtbar.
    «Papa?»
    Keine Antwort, nur das leise Echo seiner Stimme. Lukas geht tiefer in den Wald hinein, späht um sich.
    «Siehst du ihn, Wolf?»
    «Nein.»
    «Ich auch nicht. Wo ist er denn?»
    «Ich weiß es nicht, Lukas.»
    Lukas dreht sich wieder um, und jetzt kann er die Hütte nicht mehr sehen. Er stapft durch die Heide und sieht sich nach allen Seiten um. Aber die Hütte ist weg, in der Finsternis verschwunden. Nicht weinen. Jetzt nicht weinen. Er steht unter den Bäumen und hält Wolf im Arm. Er hört Flügelschlagen und das Rauschen des Windes und das leise Knarren der Äste. Im Gebüsch raschelt es, vielleicht ist es ein Fuchs oder vielleicht ein Elch. Hoffentlich ist es kein Dachs, denn dann wäre es besser, er hätte Gummistiefel an, die mit Grillkohle gefüllt sind. Weil Dachse nämlich die Leute in die Beine beißen, und sie hören nicht auf, bevor es knackt. Aber sie begegnen keinem Dachs, sie sehen nur Steine und Wurzeln und den umgefallenen Baum. Er sieht aus wie alle möglichen unheimlichen Sachen – Hexen, Trolle und Monster –, die vielleicht jetzt, in der Nacht, Wirklichkeit sind.
    «Das ist nicht schlimm», sagt Lukas zu Wolf, obwohl er nicht weiß, ob es stimmt. Aber er merkt, dass Wolf sich langsam ziemlich fürchtet, und es ist wichtig, dass er nicht totale Angst bekommt. Denn dann läuft er womöglich weg, und dann ist Lukas ganz allein.
    Plötzlich stoßen seine Zehen gegen etwas Hartes. Eine gerade Kante. Er erkennt sie wieder. Es ist die Betonkante neben dem Holzdeckel. Der Brunnen. Dann weiß er, wo er ist! Er ist in der Senke hinter der Hütte.
    «Komm», sagt Lukas zu Wolf. «Hier lang.»
    Sie gehen wieder hinauf zur Hütte. Lukas schließt die Tür fest hinter sich, läuft schnell in die Schlafkammer und springt in das kleine Bett.
    Er verkriecht sich im Schlafsack, zieht den Reißverschluss bis oben hin und zieht die Schnur so fest zu, dass nur noch seine Nase und die von Wolf rausgucken und sie Wange an Wange liegen.
    «Jetzt musst du brav sein, Wolf», sagt er, «richtig schön brav. Es ist ja nicht so schlimm. Papa kommt bald zurück.»
    Er liegt im Schlafsack, starr und kerzengerade und denkt, dass er den Rest der Nacht die Augen weit offenhalten wird. Er wird ein großer Junge sein und auf Wolf aufpassen, denn Wolf ist ja so

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