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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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nicht, Lukas. Nur in Märchen.»
    Lukas winkt mit dem Schlüssel. «Und was ist das? Ist der etwa nicht für eine Schatztruhe?»
    Robert muss lachen. «Das ist eine schöne Vorstellung.»
    «Können wir hinfahren?»
    «Nein.»
    «Warum nicht?»
    «Darum.»
    «Das ist keine Antwort. Warum können wir nicht hin?»
    Robert seufzt. Spürt, wie müde er ist, wie schwach. Dass er nicht in der Lage ist, Widerstand zu leisten. Er schafft es nicht einmal, gute Argumente gegen so eine Schnapsidee zu finden. Er braucht Schlaf, daran liegt es. Einfach hinlegen und schlafen. Und hoffentlich nicht von Albträumen aufwachen.
    «Wohin fahren wir denn dann? Wohin willst du denn?»
    Lukas steht breitbeinig und mit verschränkten Armen vor ihm. Die Unterlippe bereits trotzig nach vorn geschoben.
    Robert weiß keine Antwort. Er hat die versprochene Entdeckungsreise noch nicht geplant.
    «Wir machen eine Entdeckungsreise. Du hast es versprochen.»
    «Ja, klar.»
    «Und man soll halten, was man verspricht.»
    Robert seufzt.
    «Da ist bestimmt ein Schatz. Genau wie in Indiana Jones.»
    «Das bezweifle ich.»
    «Wir nehmen unser Zelt mit!»
    «Ja, ja – hör auf, mich zu nerven.»
    «Ja!?»
    «Lass mich jetzt ausruhen.»
    «Du hast ja gesagt.»
    «Geh raus spielen, dann denke ich ein bisschen drüber nach.»
    Lukas geht in den Garten. Robert schließt die Augen, entspannt sich. Vielleicht wäre ein Ausflug in den Wald keine schlechte Idee. Vielleicht braucht er genau das: ein bisschen Abstand von der Stadt und so weit wie möglich weg vom Theater. Ein bisschen Abwechslung. Fichten und Vogelgezwitscher. Blaubeerbüsche und murmelnde Bäche. Die Ruhe des Waldes.
    Erinnerst du dich an unsere Sommer? Wie lang sie waren. Der Sommer war unendlich. Wir liefen barfuß und leicht bekleidet um die Hütte. In den Nächten war es warm, es konnte heiß werden. Heiß unter dem Dach, heiß in den Köpfen. Deine Hände auf meinem Körper. Du hast diesen Körper geliebt, du konntest nie genug bekommen.
    Weißt du noch, wie wir im See baden gingen? Nackt, nur wir beide. Und der schiefergraue Kranich, der auf der anderen Seite stand. Du meintest, er würde glotzen, mich mit seinen gelben Augen anglotzen. Du hast mit den Armen gewedelt und ihn angeschrien. Er hat die Flügel ausgebreitet. Wie groß sie waren, als er sich in die Luft schwang. Später habe ich den Vogel vermisst, der so still auf uns aufgepasst hat.
    Weißt du noch, wie du mich nassgespritzt hast, und ich habe zurückgespritzt, und du hast mich untergetaucht. Der Griff um meinen Nacken war ein bisschen zu fest und dauerte eine Idee zu lange, und als ich wieder auftauchte und nach Luft rang, hast du gesagt: Nimm dich vor dem See der Toten in Acht, mein Kind. Nimm dich in Acht. Und ich habe bloß gelacht.
    Erinnerst du dich an den Geschmack der Wildhimbeeren? Und die unreifen Blaubeeren – weißt du noch, wie hart und grün und sauer sie waren? Der Geschmack von Waldsauerklee, Süßholz, einem Grashalm zwischen den Zähnen und Harz auf der Hand, weißt du noch? Erinnerst du dich an die perlmuttfarbene Eule mit den runden Augen in unserer Fichte? Manchmal sehe ich die Eule noch, ihre Urururenkel. Aber obwohl sie alles sieht, wenn sie auf ihre nächtlichen Beutezüge geht, sieht sie mich nicht. Und sie blinzelt und erspäht die Spitzmaus tief unten in der Dunkelheit, die kleine Maus, die unter einer Wurzel hervorlugt und zwischen den Preiselbeersträuchern verschwindet. Seidenweich und mit grauem Fell. Mit Flöhen im Fell, leckeren kleinen Flöhchen, mit leckerem Blut. Klein und knusprig. Wenn ich noch essen könnte, würde ich so eine kleine knusprige Maus verspeisen. Aber nichts pikt, brennt oder juckt, nichts schmeckt oder riecht mehr.

[zur Inhaltsübersicht]
    5
    Es ist Nacht, aber er kann nicht schlafen. Er dreht sich noch einmal auf die andere Seite, bleibt eine Weile liegen, dann schiebt er die weißen Laken zurück und setzt sich auf. Wilhelm macht Licht, steigt aus dem Hotelbett, zieht sich Hose und Hemd an und verstaut die Waffe an ihrem Platz, bevor er die dunkle Jacke überzieht. Er greift nach Schlüssel, Handy und Brieftasche, steckt alles in die Innentasche und geht aus dem Zimmer. Das Klicken der Tür, die hinter ihm zufällt, hallt in dem sonst so stillen Flur wider. Bis auf ein paar Wandvasen mit Plastikblumen ist der Flur leer. Die Türen reihen sich in regelmäßigem Abstand aneinander. Sie unterscheiden sich nur durch die Zimmernummern aus Messing in absteigender Folge, 1642 ,

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