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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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Mann zieht den Einkaufswagen aus dem Graben, richtet ihn wieder auf, dreht sich um und schlurft weiter in den Park hinein. Wilhelm atmet tief durch und schlägt die entgegengesetzte Richtung ein.
     
    Lange her, seit er zuletzt hier war. Er ist nicht mehr in Manhattan gewesen, seit er in dieses Land gekommen ist. Damals hatte er sich eine Einzimmerwohnung in der vierzehnten Straße gemietet. Eine heruntergekommene Bude, spärlich möbliert. Ein Bett. Ein Tisch. Ein Stuhl. Eine Kochplatte. In der einen Ecke ein Kühlschrank, in der anderen ein Waschbecken. Ein Fenster zum Luftschacht, was den Raum in trübgraues Licht tauchte. Sechs Stockwerke senkrecht abwärts. Unten nichts als grauer Beton. Ein Brunnen, gefüllt mit Luft. Ein viereckiges Loch. In den anderen Fenstern war nie ein Mensch zu sehen, nur ab und zu ein Schatten hinter einer weißen Gardine, ein seltenes Mal eine Hand, die den Vorhang ein wenig zur Seite zog.
    Er hätte aus dem Fenster fallen können. Unbemerkt. Er hätte nur darauf achten müssen, auf dem Weg abwärts die Klappe zu halten. Er hätte sechs Stockwerke tief fallen und sich jeden einzelnen Knochen im Leib brechen können. Aber er war nicht gefallen. Er hatte das alte Fenster kaum einen Spalt aufbekommen. Und als es ihm doch irgendwann gelang, es ganz zu öffnen, erschien es ihm trotzdem unmöglich. Immerhin hatte er es schon so weit geschafft. Hatte es geschafft, hierherzukommen. Ohne Probleme, weder bei der Einreise noch bei der Jobsuche. In dieser Stadt kann man so lange unsichtbar sein, wie man will. Wenn man vorsichtig ist und nicht durch kleine Vergehen auf sich aufmerksam macht, wie falsch parken, ohne Bezahlen durch die U-Bahn-Sperre gehen oder einen Beamten reizen, kann man ungehindert größere begehen, wie ohne Arbeitserlaubnis zu jobben.
    Er bekam Arbeit unten im Hafen, nannte sich Bill. Er hätte genauso gut Tom oder John sein können. Es musste Millionen von Bills und Toms und Johns in dieser Stadt geben. Er war für sich geblieben, hatte nicht mehr gesagt als unbedingt nötig. Die anderen hielten ihn für einen Osteuropäer, vielleicht einen Flüchtling. Er ließ sie in dem Glauben, und sie ließen ihn in Ruhe. Meistens saß er unten im Hafen mit seinem Lunch und schaute hinaus auf den breiten Strom. Bei klarem Wetter konnte er Liberty Island sehen und die Freiheitsstatue, und weiter hinten das Meer. Er dachte an das, was auf der anderen Seite des Ozeans war. Und was nicht da war. Konnte nicht lange so dasitzen. Konnte sich keine Sentimentalität erlauben, verdiente es nicht. Er hätte gern den Kopf in den Nacken gelegt, hinaufgesehen zu den Wolken, die vorbeitrieben, leicht und weiß an einem knallblauen Himmel. Hätte gern versucht, sich vorzustellen, wie es dort oben war, ob man sich darin auflösen konnte. Zu Wasserdampf werden, zu Rauch, zu nichts.
     
    Manchmal ging er zur Lower East Side hinunter, durch Alphabet City, bis zum East River. Nirgends war es öder als dort in der South Street unter den Brücken. Leute waren dort hingefahren, um Dinge loszuwerden, die sie nicht mehr haben wollten: einen ausrangierten Herd voller eingebrannter Essensreste, ein durchgesessenes Sofa, fleckenübersät, nachdem es als Schlafplatz für herrenlose Hunde gedient hatte. Halb zerrissene Pappkartons, aus denen abgelegte Kleider quollen. Hier war der Ort, wo gestohlene Autos ihre Fahrt beendeten. Mit offenen Türen und Motorhauben, ausgeplündert, aller verwertbaren Teile beraubt. Dann setzte er sich auf den Bordstein und blickte auf den vorüberströmenden Fluss hinaus. Sah zu, wie die Müllfähre Richtung Staten Island tuckerte, eingehüllt in eine Wolke von Möwen. Aber Stille fand er dort nicht. Der Verkehr raste über ihm und hinter ihm vorbei. Ein brüllender Schwarm. Ein Dröhnen und Wummern, das von den Metallplatten auf der Manhattan Bridge herrührte. Wenn jemand hier auf ihn warten würde, hinter einem der dicken Pfeiler, oder ihn aus dem nächsten Autowrack heraus beobachten, auf ihn zugehen, ein Messer ziehen, ihn abstechen und in den kalten Fluss werfen würde – niemand würde es je erfahren. Er war ja bereits verschwunden. Und vielleicht gab es ihn gar nicht mehr. Nicht wirklich.
    Aber trotz aller Geschichten über die Gegend am East River erlebte er nie etwas Gefährliches. Dort, wo er beinahe darauf hoffte, dass etwas passierte, tauchte nie irgendein Räuber oder verzweifelter Junkie auf. Trotzdem war sein Selbsterhaltungstrieb stark genug, dass er eines Tages zu einem

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