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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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stand und sein Blick starr war, stieß sie ihr Junges immer wieder mit der Pfote an, um es zum Leben zu erwecken. Nachts rollte sie sich um das Kleine, um es zu wärmen. Schließlich erhob sie sich jaulend und verschwand gen Westen im Gebüsch.

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    9
    Der Kopfschmerz sticht zu, und einen Moment lang ist ihm, als würde er ohnmächtig. Wilhelm atmet ein und saugt die kühle Kabinenluft tief in die Lungen. Ruhig jetzt. Ruhig. Er öffnet die Augen und blickt aus dem kleinen Fenster, blickt hinab auf die Erde. Vorläufig sieht man nur Wald. Zehntausend Meter bis nach unten. Was für ein Sog, was für ein Fall. Selbstverständlich fällt man nicht. Er reibt sich die Schläfen.
    «Your dinner, Sir.»
    Er klappt den Tisch vor sich herunter und nimmt das Tablett entgegen.
    «What would you like to drink?»
    Die junge Stewardess hat einen merkwürdigen Akzent. Kantig, singend. Nordisch, that is. Lange her, dass er solch einen Akzent gehört hat. Die meisten Amerikaner finden das charmant. Er nicht. Was die lippenstiftbemalte Klappe von sich gibt, klingt hässlich.
    «A beer, please.»
    Sie reicht ihm ein Budweiser, geht weiter. Er wickelt das Besteck aus der Serviette, öffnet die glühend heiße Folie. Die Mahlzeit ist eine Art klumpiges Risotto mit einem bleichen Hähnchenschenkel am Rand. Während er isst, konzentriert er sich darauf, die Ellbogen nahe am Körper zu halten. Sein Sitznachbar, ein fetter Kerl im Anzug, schläft bereits, obwohl sie kaum weiter gekommen sein können als bis Maine. Better keep it that way. In den ersten zehn Minuten des Fluges hatte der Fleischberg hartnäckig versucht, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln. Es war mühsam genug, ihn zum Schweigen zu bringen.
    Er blickt wieder hinaus auf den Wald dort unten. Schön anzusehen von hier oben, sauber und gradlinig. Man könnte fast glauben, Menschen hätten ihn angelegt, hätten ihn geplant und in Reihen angepflanzt. Die Baumkronen sehen aus, als hätte sie jemand aufgestellt, wie Blumen in einem Beet, Büsche in einem Garten. Gelbe Bäume wie Einzelgewächse auf verteilten Stielen. Nicht so wild wuchernd wie in Wirklichkeit. Der endlose Wald, der immer tiefer wird, wenn man davorsteht und hineinblickt. In dem man sich zwangsläufig verirren muss, wenn man keine Karte hat. Er hebt den Blick. Der Himmel ist schon golden. Weit entfernt sieht er ein anderes Passagierflugzeug, kleiner als eine Fliege. Das silberfarbene Metall glänzt.
    Er packt den kleinen Kuchen aus und hält die Tasse hin, für Kaffee. Lehnt sich zurück. Seine Beine sind schon ganz steif. Er sieht auf die Uhr. Noch sechs Stunden im Sessel, bevor sie auf Island zwischenlanden und er sich die Beine vertreten kann. Aber er kommt immer näher. Dinge verändern sich in dreißig Jahren. Alles hat sich verändert. Das Leben ist jetzt anders. Wieder anders. Wenn man woanders hingeht, verändert man sich.
    Er wird nicht dort bleiben, natürlich nicht. Sondern wieder nach Hause zurückkehren, sobald er alles erledigt hat, und nie mehr einen Gedanken daran verschwenden. Nach Hause? Oder weiter. Was für ein herrliches Land, in dem man einfach immer weiterziehen kann. Man setzt sich ins Auto und fängt von vorn an, ein Mal, zwei Mal, sooft man will. Ein herrliches Land voller Möglichkeiten. Alle zwei Jahre ein neuer Bundesstaat. Eine neue Stadt, a new beginning. A new name. New York, New Hampshire, New Mexico.
    Mehr als zwanzig Jahre lang ist er immer weiter weggezogen, bis nichts mehr an Vertrautes erinnerte. An das, woher er ursprünglich kam. Es wurde offener, freier und fremder, mit jedem einzelnen Schritt. Bis er unten in Las Cruses, New Mexico, unter dem endlosen Himmel saß und das trockene Gras anstarrte, die Kakteen, die nackten Felsblöcke mit den struppigen Yuccapalmen. Die Berge in der Ferne, wo es nichts als Klapperschlangen gab. Die endlose Landstraße durch die sonnenverbrannte Landschaft, der Imbiss, der Supermarkt, die Kneipe oder die Drive-in-Bank. So verstreut, wie nur amerikanische Städte sein können.
    Es war beinahe der ultimative Ort. Nichts lud zum Bleiben ein, außer dem spektakulären Sonnenuntergang, brutal in seiner orange-roten Schönheit. Wenn es ihm nicht fast unmöglich gewesen wäre, dort unten seinen Job auszuüben, wäre er geblieben. Denn er war das Umherziehen schon leid. Aber der karge, kalkige Boden, die brennende Hitze, die eiskalten Wüstennächte und die regelmäßigen Staubstürme waren nichts für Pflanzen. Er hatte nie

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