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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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Deutschenkinder. Er war sogar sehr nett.
    Der Leichenschmaus war überbordend. Mindestens hundert Gäste saßen zu Tisch. Es war zweifellos das leckerste Essen, das er jemals gekostet hatte. Es gab eine Art Elchgulasch. Viel zu trinken. So viel Limonade, wie er nur wollte. Und die Erwachsenen bekamen Schnaps und Bier. Das sei ein Fest nach
seinem
Geschmack, hieß es. Es dauerte bis tief in die Nacht.
    Am Tag darauf hatte Mutter einen Spaziergang in den Wald vorgeschlagen. Es war ein schöner Tag, Spätherbst und klares Wetter. Kühl und frisch. Mit Reif bedeckte Blätter segelten langsam von den Bäumen herab. Flechten und Moos knisterten gefroren unter den Wanderstiefeln. Der gewundene Pfad war fast zugewachsen, und mehrmals dachte er, dass sie sich vielleicht verlaufen hätten. Er blieb stehen und fragte, ob das
wirklich
der richtige Weg sein könne. Mutter wurde ärgerlich, geradezu böse. Er dachte, sie würde ihn schlagen, obwohl er inzwischen größer war als sie. Zu groß für Schläge.
    «So, du glaubst also, ich wüsste den Weg nicht, Junge? Hundert Mal bin ich den gegangen. Außerdem habe ich diese Karte!»
    Er fragte, wohin sie wollten, was da im Wald war.
    «Das wirst du schon sehen», sagte sie. «Ich werde es dir erzählen. Du sollst alles erfahren.»
    Aber als sie schließlich vor dem Ziel ihrer Wanderung standen – einer alten, heruntergekommenen Hütte –, wollte sie doch nichts erzählen. Sie zog an der Tür, bis sie sich öffnete, und sah hinein. Er ging zu ihr. Er wollte auch hineinsehen, aber da stieß sie die Tür heftig wieder zu. Und stand da, ganz weiß im Gesicht, während ihr die Tränen herabliefen.
    So hatte er sie noch nie gesehen. Und es erschreckte ihn viel mehr, als wenn sie ihn angeschrien oder geschlagen hätte. Das hier war anders. Als wäre sie eine Fremde. Er streckte vorsichtig eine Hand aus, um sie zu trösten, aber sie schluchzte nur und stieß ihn weg, wankte fort von ihm, einen kleinen Abhang hinunter und durch eine Schonung. Er rief ihr nach. Als sie nicht antwortete, lief er ihr hinterher. An einem Weiher blieb sie stehen. Zog sich die Kleider aus und watete ins Wasser. Es war eiskalt, aber sie schien es nicht einmal zu bemerken.
    Er hatte am Ufer gestanden, hatte ihr zugesehen, wie sie nackt ins kalte Wasser eintauchte und zur Mitte des Weihers schwamm, ehe sie sich auf den Bauch drehte und mit dem Gesicht nach unten liegenblieb. Der bleiche Körper trieb ganz still in dem grauen Wasser. Ihr blondes Haar schwamm ausgebreitet auf der Oberfläche. Er hatte am Ufer gestanden, sie angestarrt, geschrien: «Mutter! Mutter!»
    Aber sie blieb einfach liegen, wie eine Tote, eine Ertrunkene. Er streifte die Schuhe ab, riss sich die Kleider vom Leib und watete hinaus, um sie zu retten. Das Wasser war so kalt, dass seine Beine ganz steif wurden, blauweiß. Er konnte sich fast nicht bewegen. Aber er warf sich trotzdem hinein. Endlich hob sie den Kopf wieder aus dem Wasser und rang nach Luft. Keuchte. Dann schwamm sie zurück, auf ihn zu, und stieg an Land. Sie sagte nichts, bemerkte nicht einmal, dass er da stand, genau wie sie nackt, zitternd und nass. Rasch zog sie ihre Kleider wieder an. Blaugefroren und schlotternd. Sie wirkte nicht mehr verzweifelt, sondern wütend, und starrte zornig vor sich hin, als wäre er gar nicht da, während sie die Schuhe anzog und davonmarschierte. Den ganzen langen Weg zurück zum Hof schritt sie weit aus, ließ ihn hinter sich.
    Er hätte sie am liebsten gefragt, was los war. Was sie in der Hütte gesehen hatte. Aber er konnte sie nicht einfach fragen. So ein Verhältnis hatten sie nicht.
    Am nächsten Morgen war er früh aufgewacht, hatte sich angezogen, heimlich die Karte aus ihrer Jackentasche genommen und sich vom Hof geschlichen. Er war den langen Weg noch einmal gegangen und hatte sich unterwegs nur einmal kurz verlaufen, ehe er die alte Hütte wiederfand, die so gut versteckt lag.
    Als er schließlich vor der geschlossenen Tür stand, hatte er Angst bekommen. Vielleicht verbarg sich da drin etwas Schreckliches. Etwas Abscheuliches und Groteskes, das ihm nie mehr aus dem Kopf gehen würde. Trotzdem zog er so fest an der Tür, dass er sie aufbekam. Er trat ein, vorsichtig und zögernd, mit klopfendem Herzen. Die Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Er sah eine Feuerstelle mitten im Raum, zwei klobige Holzstühle und einen kleinen Tisch, alles eindeutig selbstgezimmert. An der einen Wand stand eine Liege mit alten Wolldecken

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