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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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werdet in einem wirklichen Schrei wiedergeboren werden. Ihr werdet die Geburt, den Tod und den Irrsinn in euch selbst finden und ihn über die Rampe bringen. Ihr werdet Gott in die Augen sehen und seinem flammenden Blick begegnen.»
    Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte er gehen sollen, denkt Robert jetzt. Hätte kapieren müssen, wohin sich das alles entwickeln würde. Aber er war ein eingebildeter Idiot und fühlte sich natürlich geschmeichelt, dass er diese Rolle bekommen hatte. Es war nicht zuletzt ‹der große Test›, ob er wirklich das Zeug zum Schauspieler hatte oder ob er nur ein unseriöser Leinwandcharmeur war. Obendrein hatte er ja alle festen Ensemblemitglieder ausgestochen. Dieses Kribbeln gefiel ihm dabei wohl am besten. Wenn er jetzt einen Rückzieher machte, war fraglich, ob er jemals wieder ein vergleichbares Angebot bekommen würde, so viel stand fest. Trotzdem. Das kann es unmöglich wert sein. Etwas ist in ihm ausgelöst worden, das er nicht mehr kontrollieren kann. Vierzig Vorstellungen. Wie soll er das überstehen?
    Er muss sein Gleichgewicht wiederfinden. Sich ausbalancieren. Er muss sich ausruhen, schlafen. Tief und fest. Er schenkt sich ein weiteres Glas Wein ein und kippt es hinunter, dann stemmt er sich aus dem Wasser, zieht den Bademantel über, sieht in den Spiegel und streicht seine Haare zu einer schönen schwarzen Welle zurück.
    Sterben, Schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegt’s: Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, wenn wir den Drang des Ird’schen abgeschüttelt.
    Er sieht normal aus. Er sieht aus wie immer.
    «Kein Problem. Alles kein Problem.»
    Er lächelt das Gesicht im Spiegel an. Nichts verkehrt mit ihm. Eine Haarsträhne fällt ihm zwischen die Augen. Die Locke eines Irren. Für einen Moment überkommt ihn Zorn bei dem Anblick. Die Lust, die Faust in den Spiegel zu rammen, zu sehen, wie sie von Glassplittern und Blut bedeckt ist. Aber er lässt es sein. Er behält sich unter Kontrolle und weiß trotzdem: Eines Abends wird es schiefgehen. Er wird einen Zusammenbruch erleiden. So ähnlich wie bei der Probe, als er kurz davor war, Polonius wirklich umzubringen. Es wird passieren.
    Vielleicht schlägt bei ihm tatsächlich das Zigeunerblut durch, und vergessene Erinnerungen drängen an die Oberfläche. Alles, was geschehen ist, bevor er vier Jahre alt war und adoptiert wurde. Etwas Unterschwelliges, was er von seinen Roma-Eltern geerbt hat. Diese schrecklichen Menschen haben ihn auf mittelalterliche Art und Weise einfach verlassen und im Wald ausgesetzt. Schlechtes Erbgut. Schmerzliche Erlebnisse, an die er sich zwar nicht erinnert, die aber die ganze Zeit da gewesen sein müssen; wohlverpackt wie die Samenkapseln einer Blume, die nur in ungewöhnlich hohen Temperaturen sprießen. Die Pflanze, die nur durch einen Waldbrand gedeiht. Wenn es so weit ist, kann sie nichts mehr davon abhalten, zu sprießen und zu erblühen. Nichts kann sie davon abhalten, sich zu verbreiten. Und plötzlich ist sie da – überall – und bedeckt für einen kurzen Sommer alle Wiesen mit ihren rotvioletten Blüten. Dann verwelkt sie, und die Samen ruhen in der Erde und warten auf den nächsten Brand. Vielleicht ist genau das passiert. Er war hoher Temperatur ausgesetzt, die Samen haben gekeimt, und das Schreckliche, das in ihm verborgen lag, begann zu sprießen.
    Weißt du noch, wie der Sommer riecht? Der Duft von Gagel, Waldgeißblatt und Wacholder. Der Duft der blühenden Heide im Sonnenschein. Auch der Donner hatte einen Geruch. Der Druck in der Luft, die Farbe des Himmels. Der Geruch von Erde während eines Platzregens. Der Duft von Fichtenreisig danach.
    Erinnerst du dich noch an das Drosselweibchen, das nach dem Gewitter hin und her flog und schrie? In der Nacht war sein Nest dem Wind zum Opfer gefallen. Die Küken lagen mit geschlossenen Schnäbeln und eingedrehten Krallen auf der Erde verteilt. Sie waren tot, kalt und grau, mit dünnem Flaum auf den mageren Körpern. Schreiend bewacht von der Mutter, bis es dunkel wurde. Da flog sie über die Hügel davon.
    Erinnerst du dich noch an die Überschwemmung? Im Laufe einer Nacht hatte der Regen den Fluss über die Ufer treten lassen. Eine Füchsin kämpfte sich japsend aus ihrem Bau und durch das schäumende Schlammwasser. Ihre Jungen schafften es nicht. Sie wurden vom Strom erfasst und unter Wasser gezogen. Sie erwischte eins, schleppte es an Land und saß drei volle Tage bei ihrem toten Welpen. Und obwohl die Schnauze offen

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