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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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zog die Handschuhe aus und warf sie in die Schubkarre, dann drehte sie sich um. Ganz langsam. Als wüsste sie, dass jemand sie ansah, dass er dort stand. Sie drehte sich um und sah ihm direkt in die Augen. Ihr Blick. Blau. Fest. Er war fest damals. Als würde sie geradewegs in ihn hineinsehen, direkt durch ihn hindurch.
    Er hatte die Augen niedergeschlagen. War rot geworden. Der große Mann von sechsundzwanzig schrumpfte zu einem linkischen Schuljungen. Er hatte die Hand zu einer Art Gruß erhoben, aber sie wandte das Gesicht ab. Packte die Griffe der Schubkarre und ging weg.
    Eine Woche lang beobachtete er sie aus der Ferne. Sah, wie sie die Erde mit der Forke aufbrach, sich hinhockte und Blumen pflanzte, sich wieder über die Schubkarre beugte, neue Blumen holte. Irgendetwas an ihren Bewegungen fesselte seinen Blick. Sie waren langsam, beinahe bedächtig, aber gleichzeitig sehr anmutig. Oft stand sie anschließend noch eine Weile am Grab. Mit leicht gebeugtem Nacken. Beinahe so, als betrauerte sie die Toten. All diese Toten, zu denen sie unmöglich eine Beziehung haben konnte.
    Er winkte ihr nicht wieder zu, ertappte sich aber manchmal bei dem Wunsch, er würde in dem Grab liegen, das sie gerade so schön schmückte, auf das sie eine Begonie pflanzte. Er versuchte, sich auszudenken, wie er ihr näherkommen könnte, versuchte, sich vorzustellen, wie er gleichsam zufällig im selben Moment an den Wasserhähnen auftauchte wie sie. Versuchte, sich zurechtzulegen, was er sagen könnte. Aber ihm wollte nichts einfallen, was sich gleichzeitig intelligent und beiläufig anhörte.
    Er nahm sein Mittagessen für gewöhnlich zusammen mit den anderen Festangestellten ein, auf der Bank drüben am Geräteschuppen. Von dort aus konnten sie mit etwas Mühe zu den Saisonkräften hinübersehen, die ihre Pause auf dem Rasen hinter den Fliederbüschen verbrachten. Es war ein ziemlich heißer Sommer, und einige der Mädchen hatten ihr T-Shirt ausgezogen und sonnten sich nur im BH . Das war auf dem Friedhof nicht erlaubt. Aber entweder kannten sie die Vorschriften nicht, oder sie kümmerten sich nicht darum. Wie auch immer – der Vorarbeiter schien es nicht zu bemerken, oder vielleicht genoss er auch den Anblick der halbnackten Mädchenkörper, so wie die anderen Männer.
    Sie lag etwas abseits von den anderen und las ein Buch. Ihm fiel auf, wie hell sie war. Wie schmal und hell, fast durchscheinend. Die Brüste unter dem Bikinioberteil waren klein und knospig, als wäre sie immer noch in der frühen Pubertät.
    Zwei der anderen Kerle hatten sie sich auch ausgeguckt. Als sie über ihren Pausenbroten saßen und über die jugendliche Blumenpracht drüben auf dem Rasen diskutierten, zeigte der eine mit dem Daumen auf sie und sagte mit vollem Mund, zwischen Kauen und Kaffeeschlürfen: «Schau dir die Twiggy da drüben an. Was für ’ne Figur.»
    «Hast ihre Augen gesehen?», sagte der andere.
    «Hübsch. Viel ist ja nicht an ihr dran, aber ich hätte trotzdem nichts gegen eine Runde oder zwei mit ihr im Heu.»
    «Hat bestimmt ’ne schön enge Möse», lachte der zweite.
    Da sah er rot. Er sprang auf, ballte die Faust. Stand zitternd vor Wut vor den beiden und wollte ihnen die Fresse polieren. Das dreckige Lachen aus den widerlichen Mäulern prügeln. Es wurde ganz still auf der Bank. Die anderen sahen ihn mit seltsamem Blick an, grinsten. Einer von ihnen stand auf und klopfte ihm auf die Schulter.
    «He, Wilhelm – lass gut sein, Junge. Tom hat bloß Spaß gemacht. Der macht über alles Mögliche Witze. Ist doch so, oder, Tom?»
    Und dann drehten sie ihm eine Zigarette, brachten ihn dazu, sich wieder hinzusetzen, gossen ihm einen Becher Kaffee ein, dann erhoben sie sich und gingen wieder an die Arbeit. Er blieb allein auf der Bank sitzen, immer noch zitternd. Die anderen warfen sich verstohlene Blicke zu und wechselten murmelnd ein paar Worte. Aber laut genug, dass er es hörte. Was ist denn mit dem los? Glaub, der tickt nicht ganz sauber.
    Bald hallte der Friedhof wider von Rasenmähern und Heckenscheren. Und nach einer kleinen Weile schaffte er es endlich, sich so weit zusammenzureißen, dass er aufstehen und so tun konnte, als sei nichts passiert. Aber er war noch nicht fertig damit. Er griff zur Säge und ging auf die Blutbuche los, bei der die toten Äste abgenommen werden sollten. Raste rücksichtslos darüber hinweg und riss Lebendes wie Totes mit.
    Da sah er aus den Augenwinkeln, wie sie sich näherte. Sie kam von links. Das

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