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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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Hausecke. Sie klappt die Leiter auseinander und betrachtet sie. Wie furchtbar hoch und wacklig sie ist. Und die Stufen sind so kurz und schmal. Selbstverständlich traut sie sich. Sie muss! Mit der linken Hand hält sie sich gut an der Leiter fest, in der rechten hat sie die Flagge. Nein, nicht nach unten schauen. Nicht schauen! Nur zwei Stufen, mehr nicht. Sie streckt sich, so weit sie kann, und trifft das Rohr mit dem Flaggenstiel gleich beim ersten Versuch.
    «So!»
    Sie steigt vorsichtig wieder hinunter, tritt ein paar Schritte zurück und betrachtet ihr Werk.
    «Fabelhaft», sagt sie zu sich selbst.

[zur Inhaltsübersicht]
    11
    Er spürt einen leichten Klaps auf der Stirn. Robert öffnet die Augen und schaut in Lukas’ breites Lächeln.
    «Guten Morgen, Papa! Der kleine Zeiger steht auf der Elf und der große auf der Sieben. Wie viel Uhr ist es dann?»
    Robert gähnt, dass seine Kiefer knacken. «Das weiß ich nicht. Nicht so früh.»
    «Es ist nicht früh. Es ist spät!»
    «Okay.»
    «Fünf nach halb zwölf! Ich habe dir Kaffee gekocht.»
    Robert schaudert, aber heimlich, damit Lukas es nicht mitbekommt. Das Gebräu des Jungen ist entweder so stark, dass es die Herzfrequenz um wenigstens fünfzig Prozent erhöht, oder so dünn, dass es kaum noch braun ist.
    «Bitte schön, Papa.»
    «Danke, Lukas. Das ist sehr lieb von dir.»
    «Jetzt musst du ihn auch trinken.»
    Robert nimmt einen Probeschluck. Gar nicht so schlecht.
    «Du bist ja ein richtiger Profi im Kaffeekochen geworden.»
    «Ich bin immer ein Profi.»
    Lukas zieht die Gardinen zur Seite. Das Zimmer wird von Sonnenschein durchflutet.
    «Schönes Wetter, Papa, guck mal!»
    Robert kneift die Augen zusammen. Er kann so nicht weitermachen. Jeden Tag wacht er mit einem Brummschädel auf und verspürt trotzdem schon wieder Lust auf ein Glas. Er wird keinesfalls Alkohol mitnehmen. Der Ausflug in den Wald mit Lukas wird eine klitzekleine Entziehungskur werden.
    «Aufstehen!», drängelt Lukas. «Wir haben heute viel zu tun!»
    Robert gähnt noch einmal, schwingt die Füße aus dem Bett und wankt ins Bad. Es gibt noch so viel zu erledigen, bevor sie aufbrechen können. Ein langer Tag, der schnell kürzer wird. Die Sonne geht schon wieder früher unter, die Dunkelheit setzt gegen sieben Uhr ein. Oder um sechs? Er darf nicht vergessen, noch einmal in der Zeitung nachzusehen, bevor sie fahren.
    «Jetzt packen wir!», ruft Lukas.
    «Fang ruhig schon mal an.»
    «Wer als Erster den Rucksack fertig hat!»
    Er dreht die Dusche an und stellt sich unter das warme Wasser. Bald wird er sich besser fühlen. Es geht doch nichts über einen Ausflug in die Natur. Aber es gibt vieles zu bedenken. Schlafsäcke und Kleidung zum Wechseln. Er muss ein paar Flaschen mit Wasser füllen, einen Einweggrill kaufen, Würstchen und Brot, muss das Zelt suchen und die Isomatten. Wann hat er wohl die Sachen zuletzt benutzt? Das muss Jahre her sein. Er seufzt. Er hat nie gerne im Zelt geschlafen, nie kapiert, was daran so großartig sein soll. Wo man doch in einem Bett so viel besser schläft. Aber für einen guten Vater ist es quasi obligatorisch, mit seinem Sohn zelten zu gehen. Trotzdem, bei der Vorstellung, wie sie beide durch die Wildnis laufen, wird ihm beinahe übel. Es erinnert ihn an die Pfadfinderlager seiner Kindheit. An die langen Märsche zu Orten, die man zuvor nur als Buchstaben und Linien auf einer Karte kannte. Eine Expedition ins Ungewisse. Er war nie darum herumgekommen, auch wenn er das Hätschelkind der Familie war.
    Ansonsten hatten sie an ihn nicht so hohe Ansprüche wie an die beiden Geschwister gestellt. Während die beiden Älteren so hart rangenommen wurden, dass sie mit den Ohren schlackerten, ließen die Eltern es ihm durchgehen, wenn er mit schlechten Zensuren nach Hause kam. Als er nicht mehr Klavier spielen wollte, stieß er längst nicht auf denselben Widerstand wie seine Schwester. Aber nur, weil sie es für angeboren hielten. Eine Charakterschwäche, an der man nichts ändern konnte. Beide Eltern waren Mediziner. Ein kühles und analytisches Elternpaar, das eher den Erbanlagen als dem sozialen Umfeld Bedeutung beimaß. Er mochte sie wirklich sehr, dennoch blieb zwischen ihnen immer ein Abstand. Als könnte er nie ganz an sie heranreichen. Die Natur hatte ihn nicht gut genug ausgestattet. Und selbst unter den besten sozialen Voraussetzungen blieb etwas, an dem nicht zu rütteln war: Die Gene, seine DNA – darin stand sein Schicksal geschrieben. Ein

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