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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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du. Er hat uns allen immer so leidgetan.»
    «Er ist kein Deutschenkind!»
    «Nein, das hast du immer gesagt.»
    «Er ist keins! Und er hatte es so gut bei mir, wie ein Kind es nur haben kann», schreit sie. «Mein Junge war immer sauber und ordentlich!»
    «Sauber und ordentlich, ja. Aber er hatte auch blaue Flecken. Riesige blaue Flecken. Überall. Glaubst du, wir haben das nicht gesehen? Aber die äußerlichen waren nicht das Schlimmste. Er hatte sie auch innerlich.»
    «Raus! Hau bloß ab!»
    «Ja, ja», sagt Aslaug matt. «Dann mach’s mal gut.»
    Evelyn knallt die Tür hinter ihr zu. Schließt ab. Schlurft zurück in die Stube.
    «Diese Klatschweiber», faucht sie und unterdrückt ein Schluchzen. Lässt sich auf einen Stuhl fallen, betrachtet den hübsch gedeckten Tisch. Die Schnittchen sind an den Rändern angetrocknet. Der Lachs hat einen gelblichen Stich, und das Roastbeef ist ganz braun.
    Sie blickt auf ihre Hände hinunter. Knorrig und kantig, Adern und Knochen liegen so dicht unter der Oberfläche. Sie zittern leicht, erschöpft nach dem langen Tag. Nach all den anderen langen Tagen, all der Arbeit. So viel Arbeit in den ganzen Jahren. Um zu überleben, die Kreditraten zu zahlen, die Stromrechnung, das Heizöl. Das Essen für sich und den Jungen. Hände, die Praline für Praline in die Formschalen legten, die auf dem Fließband vorbeiglitten. Die sich bis zum heutigen Tag daran erinnern, wohin die Ananastrüffel in der Halbkiloschachtel gehörten und die Liköreier in der Kiloschachtel. Immer dieselben Bewegungen, tagein, tagaus. Bewegungen, die sie am Leben erhielten. Solche Hände können nichts Böses getan haben. Nie gestoßen oder geschlagen. Nie jemanden eingesperrt. Keine schlimmen Erinnerungen, nichts.
    Sie starrt aus dem Fenster. Inzwischen ist es stockdunkel. Nichts zu sehen. Keine Erinnerungen, alles weg, in den Schatten verschwunden. Sie fühlt das Weinen die Kehle hinaufkriechen, steht abrupt auf und stößt versehentlich gegen den Turmkuchen, sodass er umkippt. Die Ringe purzeln über den Tisch, einige zerbrechen in mehrere Stücke. Sie sammelt sie schluchzend auf, versucht den Kuchen wieder zusammenzusetzen. Er wird nicht mehr, wie er war, sondern schief und krumm und wacklig. Alles kaputt. Sie macht kehrt, schwankt aus dem Zimmer, durch das nächste und das dahinter. All diese leeren Räume. Voller Zeug, aber dennoch leer. Warum ist hier nichts, was trösten könnte?
    Sie steigt hinauf ins Obergeschoss, öffnet die Tür zu dem Zimmer, das einmal seins war, das frühere Kinderzimmer. Nichts erinnert daran, gar nichts. Das Zimmer ist völlig anders eingerichtet. Bis auf den Verschlag, der immer noch abschließbar ist. Damals waren dort auch schon Kleider drin, so wie jetzt. Keine Kindersachen, nichts dergleichen. Da war nie Spielzeug drin. Nichts Spaßiges in der Strafecke. Aber er hatte doch Spielsachen, oder nicht? Wo sind die hingekommen? Sie öffnet den Verschlag, kramt im Dunkeln. Nein, sie kann nichts finden. Keine Reliquien.
    «Hätte den Anblick sowieso nicht ertragen», murmelt sie. Nicht einmal den Anblick von einem kleinen Bauklötzchen oder Schuh, einem einzigen vergessenen Fäustling, immer noch filzig von Tränen. Hätte sie so etwas gehabt, hätte sie es in den Kamin geworfen und zugesehen, wie es in Flammen aufgeht. Nichts verloren und nichts abhandengekommen. Nichts weggeschoben oder zurückgestoßen.
    Sie setzt sich an den Arbeitstisch und fährt mit dem Finger über die fettige Staubschicht oben auf der Nähmaschine. Nähmaschinenöl. Ein guter Geruch, so vertraut. Es tat gut, sich hierhin zu setzen, Stich für Stich zu nähen. Eine Konzentrationsarbeit. Den Fuß auf dem Pedal, gerade Linien, gerade Nähte, sich am Stoff orientieren, am Saum, in richtigem Abstand zur Kante. Die Geschwindigkeit steuern und gleichzeitig die Stecknadeln herausziehen, rasch, um sich nicht zu stechen. Alles verschwand dabei, sie konnte alles vergessen, ihr wurde beinahe leicht ums Herz. Nadel auf, Nadel ab, einfach darauf starren, den Rhythmus halten, das Geräusch hören, katak-katak-katak. Sie hat schon eine Ewigkeit nicht mehr genäht, kann die Naht nicht mehr richtig erkennen, den Stoff nicht an seinem Platz halten. Die Naht würde krumm und schief werden, über den Stoff hinausgehen. Der Unterfaden würde sich mit dem Oberfaden verheddern, und sie müsste versuchen, das in Ordnung zu bringen, müsste tief in die Spulenkammer greifen und könnte es mit ihren kraftlosen Fingern doch nicht

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