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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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sie den Mund öffnete, würde kein Wort herauskommen. Es gibt keine Worte mehr, hörst du? Ich habe keine Worte. Also lass das! Fass mich nicht an! Hau ab! Verschwinde! Er hält inne, mitten in der Bewegung. Lässt die Arme sinken, steht da, gebeugt. Dann dreht er sich um, geht langsam zur Tür, wird immer undeutlicher. Aber eins sieht sie, als er stehen bleibt und sich ein letztes Mal umdreht: dieses Aufblitzen in seinen Augen. Satansbengel. Du hattest das alles verdient, das wusstest du genau. Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Und du lebst, oder etwa nicht? Die Tür schließt sich hinter ihm. Es wird still. Ganz still. Der Raum ist wieder weiß und rein.
    Sie blickt zur Tür. Versucht die Arme nach ihm auszustrecken, versucht seine kleine Hand zu ergreifen. Versucht ihm über den Kopf zu streicheln, ihn fest an sich zu drücken. Ihn zu wärmen, den kleinen Jungen. Aber so ist das nicht. Sie weiß ja, wie es ist. Ich habe ihn ausgelöscht, nicht wahr? Ihn wieder einmal ausgelöscht. Jetzt ist er weggegangen. Mein einziges Licht. Er kommt nie mehr zurück.
    Bist du jemals im Winter hier gewesen? Wenn sich auf dem Bach eine Eisschicht gebildet hat, knirschender Harsch. Erstarrte Halme ragen aus dem Boden, auf den der Schnee so leise fällt. Nichts ist frostiger als die weißen Sterne an der winzigen Fensterscheibe, nirgendwo ist es kälter als in unserer Schlafbank. Manchmal habe ich mich hineingelegt, zwischen die steifgefrorenen Decken. Als könnte ich jemals wieder warm werden. Die Hitze ist schon vor vielen Sommern entschwunden. Als wir dort lagen, ineinander verflochten.

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    23
    Es dämmert. Wilhelm setzt sich hinters Steuer, zieht die Tür mit einem Knall zu. Er dreht den Zündschlüssel und fährt vom Parkplatz vor dem Krankenhaus, fährt die Lovisenberggata hinunter Richtung Ringveien. Folgt den Lichtern, den Schildern, dem Auto vor ihm. Starrt auf die Rücklichter, rot und blinkend. Sie verschwinden trotzdem. Zitternd in dem wässrigen Schleier, den die Augen produzieren. Er schluckt, fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Verdammte Scheiße.
     
    Die Stationsschwester hatte gelächelt, als er kam: Und wir dachten schon, sie hätte niemanden. Es ist so traurig, wenn sie ganz allein sind. Sie sind der Sohn? Er hatte den Kopf geschüttelt. Die Schwester sagte: Ist nicht so wichtig, wer Sie sind, Hauptsache, es kommt jemand. Jemand? Wir sind immer etwas überfordert bei den Fällen, die keine Angehörigen haben. Was für Fälle? Heute passiert es wohl noch nicht, sagte die Schwester. Das kann Wochen dauern. Sie ist schlimm gestürzt und hatte einen leichten Schlaganfall. Die Hüfte hat sie sich auch gebrochen, und ein paar Rippen. Ein Glück, dass ein Nachbar vorbeigekommen ist und sie so schnell gefunden hat. Aber erfahrungsgemäß halten sie nach so etwas nicht mehr lange durch, wenn sie so alt sind.
    Dann wurde er in ihr Zimmer geführt. Ein Stuhl wurde an die Wand gestellt, und man bat ihn zu warten. Sie schlief. Zunächst sah er sie nicht direkt an. Ließ den Blick stattdessen durchs Zimmer schweifen. Die weißen Wände, die sparsame Möblierung, das Fenster. Er saß da und beobachtete, wie die Sonne weiterwanderte, zu einem goldenen Sonnenuntergang wurde, der die Wände aufleuchten ließ. Man hätte sich vielleicht vorstellen können, dass es ein anderer Ort wäre, eine andere Situation. Aber es war, wie es war. Die Schwester kam mit einer Tasse Kaffee und ein paar Keksen. Er trank den Kaffee, während sein Blick zu ihrem Bett glitt. Was dreißig Jahre aus einem Menschen machen. Diese Veränderung. Seine Augen begannen zu tränen. Wie verschrumpelt und dürr sie geworden war. Wie zart und klein. Er war von seinem Stuhl aufgestanden, zu ihr gegangen, hatte sich über sie gebeugt, ihr über das schneeweiße Fusselhaar gestrichen und die kleine, knochige Hand in seine genommen.
     
    Die im Krankenhaus hatten sich geirrt. Sie hatte sich nicht gewünscht, ihn zu sehen. Sie freute sich nicht, dass er kam, die Hexe. Er hatte es nie geschafft, ihr Freude zu machen, warum sollte es jetzt anders sein? Er kam nur, weil er etwas von ihr wollte. Er wollte etwas haben. Deshalb war er gekommen. Was zum Teufel ist los, was zum Teufel hast du am Telefon gemeint, was zum …? Das wollte er sagen. Aber sie wollte nicht hören. Wollte ihn nicht sehen. Denn obwohl eine große Verwandlung eingetreten war und der Zahn der Zeit so gründlich an ihr genagt hatte, war der Kern ganz und gar

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