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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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Nachttischschublade. «Oh! Das sind ja Micky-Maus-Hefte!»
    «Jaja. Ich warte draußen auf dich.»

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    22
    Sie war nicht gut, sie war böse. Und das hier ist das Fegefeuer, der weiße Raum mit dem beißenden Licht, dem sauberen Bett, das so viel weicher ist, als sie es verdient hat. Sie liegt auf der Waage. Bald kommt die Strafe.
    «Evelyn Ødegaard?»
    Sie blinzelt, erkennt schemenhaft eine der weißgekleideten Gestalten drüben an der Tür.
    «Sie haben Besuch.»
    Sie wollen sie täuschen, die Engel. Niemand wird kommen. Niemand will ihren Kuchen und ihren Kaffee. Sie presst die Lippen zusammen, kneift die Augen zu vor dieser letzten Demütigung. Ich lasse mich nicht mehr täuschen, hört ihr? Haltet mich nicht zum Narren. Aber sie kann nicht anders, sie muss nachsehen. Sie öffnet die Augen einen schmalen Spalt, blinzelt zur Wand dort drüben.
    Da ist etwas neben der Tür, oder? Nickt es ihr zu? Nein, da ist doch niemand. Kein lebendiges Wesen. Nur ein Schatten. Vom Schrank, von der Tür. Der Schatten eines flatternden Engels. Man sollte nicht meinen, dass die so etwas hinter sich herziehen. Ihre Augen fallen wieder zu, sie nickt ein. Träumt. Sie ist in einem Ei, klein und zusammengekrümmt. Sie liegt da drin und fragt sich, wie sie herauskommen soll. Denn das Ei ist in einer Ente, und die Ente ist in einem Kästchen, und das Kästchen steht in einem Schrank. Und der Schrank ist mit drei bleischweren Türen verschlossen. Doch die Schlüssel zu den Türen – einer aus Gold, einer aus Silber und einer aus Kupfer – liegen in ihrem Bauch. Sie hat sie selbst verschluckt, ganz ohne Zwang.
    Als sie aufwacht, ist der Raum wärmer als vorher. Ein goldenes Licht fließt von irgendwo herein, fällt auf die Wand und den Stuhl dort drüben. Der Schatten ist klarer, anders. Er hat Gewicht, Fülle und Form. Ist da wirklich jemand? Hallo? Warum sitzen Sie hier?
    Er erhebt sich vom Stuhl, kommt näher, wird größer. Dunkel und mächtig beugt er sich über sie, spricht. Sie kriecht in sich zusammen und hofft, dass die Bettdecke sich um sie schlingt. Dass sie abhebt und mit ihr in Windeseile davonfliegt. Denn sie sieht, wer es ist.
Er
ist gekommen. Der Mann mit der Sense oder dem Besen oder der Hacke. Er wird sie mitnehmen, sie hinunterziehen in seine tiefe, ewige Dunkelheit. Zum letzten Mal sinken und fallen. Tief unter die Erde. Wo die Würmer herrschen, die Maden, die Fäulnis. All das wird sie in Besitz nehmen. Hat sie das verdient? Doch, sie hat es verdient, und Schlimmeres, und trotzdem ist sie entsetzt. Nein! Ich will nicht! Verschone mich! Ihr Mund ist trocken, und das Herz hämmert. Es schlägt noch, sie spürt es. Er hält mitten in der Bewegung inne. Sie kommt wieder zu Atem, bebend. Das Zittern lässt langsam nach. Er nimmt ihre Hand. Die große Pranke ist warm. Sie legt den Kopf schräg, betrachtet ihn. Er ist jetzt deutlicher zu erkennen, oder nicht? Ist er es, der Mann aus dem Wald? Die kräftigen Arme sind stark genug, sie kleine Person hochzuheben. Stark wie die Äste einer Eiche. Bist du es wirklich? Lebst du noch? Du lebst. Denn es ist nichts geschehen, ist es nicht so? Alles wird gut für die Guten. Das hast du gesagt. Alles gut für die, die reinen Herzens sind. Nichts verloren oder abhandengekommen. Nichts zerstört.
    Unsinn, nichts als Unsinn. Selbstverständlich ist er tot. Denn jetzt sieht sie, wer es wirklich ist. Er sieht immer noch verloren aus, der große Mann. Ebenso verloren wie der kleine Junge. Diese Augen, immer noch so dunkel. Die Augen, die immer größer wurden, wenn sie ihn in die Kammer stieß, die kohlschwarz wurden, wenn sie die Kellerluke schloss. Der Blick, der sie noch lange verfolgte, nachdem die Luke verrammelt und verriegelt war. Die Arme, die sich ihr entgegenstreckten, der schreiende, bettelnde Mund. So klein und jämmerlich. Welch einen Abscheu sie empfand. Lass das! Fass mich nicht an! Du bleibst da, bis du wieder brav bist!
    Er spricht jetzt zu ihr, sagt etwas. Mutter, sagt er. Mutter, bitte. Mächtig war sie. Allmächtig. Sie herrschte über Leben und Tod. Jetzt ist sie klein und zart, wie ein vergilbtes Stück Papier. Kann sie immer noch herrschen? Er sagt etwas, fragt. Eindringlich. Drängend. Nach einer Hütte. Was für eine Hütte. Eine Hütte dort drinnen. Wo drinnen. Ich weiß von keiner Hütte, und falls doch, werde ich darauf bestimmt nicht antworten. Selbst wenn sie die Lippen nicht mehr zusammenpressen würde, standhaft und eisern, selbst wenn

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