Der Wald wirft schwarze Schatten
Titelseite über einem Foto von Elvis Presley. 17 . August 1977 . Heilige Scheiße.
«Du brauchst nicht weiter zu suchen, Papa. Wir haben doch jede Menge zu essen hier.»
Lukas zieht die Plastiktüte mit Proviant aus Roberts Rucksack.
«Setz dich ruhig hin, Papa, ich mache uns was zu essen.»
Robert lässt sich neben Lukas nieder, schneidet auf dem Schoß Brot ab. Lukas bestreicht die Scheiben großzügig mit Marmelade.
«Es macht Spaß, zusammen zu kochen, oder, Papa?»
«Ja, klar.»
Sie essen.
«Ist es nicht gemütlich hier?»
«Gemütlich?»
«Guck doch mal, das schöne Bild da.»
Über dem Bücherregal hängt ein welliges Poster, das eine rote Gebirgslandschaft mit leuchtend blauem Hintergrund zeigt.
«Wo ist das?», fragt Lukas
«Sieht aus wie der Grand Canyon. Amerika.»
«Das ist aber schön!»
Auf jeden Fall haftet all diesen Dingen etwas sehr Privates an. Sie müssen Ausdruck dessen gewesen sein, was jemand schön und gemütlich gefunden hat. Träume, die zu Erinnerungen geworden sind. Erinnerungen, die sich weiß Gott wohin zerstreut haben. Wenn sie nicht noch immer in den Dingen weiterleben. Es kann einem richtig schlecht werden, wenn man sich vorstellt, dass sich hinter all diesen Sachen einmal ein Leben verbarg. Er denkt an die alte Dame, die im Theater aufgetaucht ist. War das hier ihr Paradies? Sein Blick fällt auf Lukas, der sich neben ihm zusammengerollt hat, und er unterdrückt den Impuls, das Kind von dem verschimmelten Sofa aufzuscheuchen. Lukas fühlt sich schon ganz wie zu Hause und stört sich nicht an dem Verfall. Daran, dass der Ort unbewohnbar ist, seine Auflösung unmittelbar bevorsteht. In absehbarer Zeit werden Feuchtigkeit, Moder und Schimmel in jede Ritze dringen und die Wände und das Dach so brüchig machen, dass alles zusammenkracht und zu einem undefinierbaren Haufen zerfällt, der langsam, aber sicher von der Umgebung verschlungen wird. Insekten werden sich Gänge durch das morsche Holz graben, es aushöhlen und Stück für Stück in Erde umwandeln. Die Pflanzen des Waldes werden Wurzeln schlagen und hindurchwachsen. Weidengestrüpp, kleine Kiefern, Flechten und Heidekraut werden sich durch die letzten Reste fressen, bis sie komplett zerfallen und von Moos, Laub und Gras bedeckt sind. Es kommt ihm vor, als wären sie in eine Zeit eingebrochen, die Bestandteil der Hütte, außerhalb aber schon längst Vergangenheit ist. Sie haben ihre eigene Zeit in die Hütte gebracht und ihren langsamen Verfall gestört.
Robert atmet tief durch. Er fühlt sich, als könnte er fünf Zigaretten auf einmal in den Mund stecken und trotzdem wären es nicht genug. Hätte er jetzt ein Sixpack Bier dabeigehabt, hätte er ohne weiteres eins nach dem andern in sich reingekippt.
«Papa, was ist da hinter der Tür?»
«Das Schlafzimmer, schätze ich.»
«Können wir reingucken?»
«Nein. Lass das sein.»
Aber der Junge ist schon auf den Beinen und drückt die Tür auf. «Oh, wie toll!», ruft Lukas.
Es ist ein winziges Schlafzimmer mit fleckiger Blumentapete, einem Kinderbett, einem Nachttisch und ein paar verschossenen Kuscheltieren. An den Wandhaken hängen Wollpullover, Jacken und Regenzeug. Ein kleiner grüner Anorak. Auf dem Boden stehen drei Paar Gummistiefel. Große, mittlere, kleine. Vater, Mutter, Kind.
«Guck mal, Papa! Regensachen! Gummistiefel!»
«Ja, schau an.»
«Hier hat das Kind geschlafen. Und im Wohnzimmer, auf dem Sofa, haben die Mutter und der Vater geschlafen. Oder was meinst du?»
Robert nimmt die Hand des Jungen. «Komm», sagt er entschieden. «Jetzt gehen wir.»
«Ich will hierbleiben!»
«Wir haben eine Abmachung!»
Lukas windet sich los und greift nach einem der Kuscheltiere. Ein hellblaues Kaninchen. «Guck mal, wie süß!», sagt er und hält es Robert vors Gesicht.
«Tu das Ding weg!», schreit er. «Leg es weg!»
Lukas lässt das Kuscheltier fallen. In seinen Augen stehen Tränen.
Heilige Scheiße, was ist eigentlich mit ihm los? «Entschuldige, Lukas. Ich habe das nicht so gemeint. Aber das Ding ist schimmelig und alt. Komm jetzt.»
Aber Lukas rührt sich nicht vom Fleck, starrt ihn nur zornig an.
«Tja. Dann musst du eben allein hierbleiben!», sagt Robert und geht zur Tür.
«Geh doch! Lass mich ruhig allein!»
Robert seufzt, dreht sich herum. «Natürlich lasse ich dich hier nicht allein.»
«Können wir nicht noch ein bisschen hierbleiben?»
«Okay. Ein
kleines
bisschen.»
«Ich bleibe hier und spiele.»
Lukas öffnet die
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