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Der Waldläufer

Titel: Der Waldläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Ferry
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Todesarten ist die grausamste die, vor Furcht zu sterben.«
    »Zum Teufel mit Euren Geschichten!« rief Baraja. »Ich weiß nicht, warum ich so wahnwitzig bin, Euch so zu befragen.«
    »Es ist schrecklich, aber belehrend; und da Ihr jeden Augenblick den Indianern in die Hände fallen könnt, so ist es doch gut, zu wissen, welches Schicksal Euch in einem solchen Fall bevorstehen kann; es ist doch immer ein Trost in Ermangelung eines besseren.«
    »So macht doch ein Ende!« sagte Baraja seufzend. »Ich sehe wohl, daß alles in allem das Gewerbe eines Goldsuchers ein verwünschtes Geschäft ist.«
    »Ich habe immer«, fuhr der Erzähler fort, »mit Recht oder Unrecht gedacht, daß sich immer nur das ereignet, was sich ereignen muß, und daß man folglich über nichts in Schrecken zu geraten braucht. So sagte ich denn auch zu mir, als ich den Indianern in die Hände fiel, daß sie tun könnten, was ihnen beliebte; wenn ich nicht sterben sollte, so würde ich doch nicht sterben. Nun, die Indianer waren an diesem Tag in sehr mürrischer Laune, weil wir in einem Scharmützel nicht wenige Krieger getötet hatten. Sie beratschlagten anfangs – ich merkte es sehr gut an ihren Gebärden –, ob ich skalpiert, bei lebendigem Leibe erdrosselt oder in Stücke gehauen werden sollte. Endlich brachte ein Führer, dessen Aufregung außerordentlich war, seine Krieger dahin, daß man mich an einen Pfahl band, um ihnen als Zielpunkt in der Handhabung der Büchse zu dienen.
    Sie hatten einen langen Tag vor sich, und ich sollte die Kosten ihres Vergnügens für einen ganzen Tag bezahlen. Ich hatte einige Worte aus ihrer Unterhaltung verstanden und dachte, weil ich gegen alle Gewohnheit weder skalpiert noch lebendig gebraten werden sollte, so könnte ich vielleicht allem anderen noch entgehen. Wirklich war ich vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne ein Zielpunkt für ihre Büchsen. Jeder Krieger trat vor, wenn die Reihe an ihn kam, zielte nach meinem Kopf und gab Feuer. Ich hielt so 284 Schüsse aus, nicht mehr und nicht weniger; ich zählte der Zerstreuung halber, denn die Zeit schien mir sehr lang.«
    »Ich glaube es«, sagte Baraja im Ton der Überzeugung. »Aber Señor Benito, Ihr bindet uns etwas auf mit Euren 284 Büchsenschüssen!«
    »Ich kann nicht einen einzigen ablassen. Ich habe Euch ja gesagt, daß die Indianer sehr aufgeregt waren, und um sich zu trösten, machten sie den Versuch, mich vor Furcht sterben zu lassen. Die schlechtesten Schützen, die mich sofort hätten töten können, schössen nur mit Pulver nach mir. Öfter als zweihundertmal fühlte ich, wie das pfeifende Blei meine Haarbüschel bewegte. Dann aber, als sie sahen, daß diese fürchterliche Angst mich nicht getötet hatte, banden sie mich los. Ich hatte zwölf Stunden am Pfahl gestanden und kann sagen, daß ich 284mal erschossen wurde. Glaubt Ihr noch«, schloß der Erzähler, »daß dies keine grausamere Behandlung gewesen ist als der wirkliche Tod und daß, wenn die Annäherung des einfachen Todes zuweilen eine solche Entmutigung und Angst bei dem Kühnsten hervorbringt, es nicht eine Höllenqual ist, seine Seele zwanzigmal in der Stunde Gott zu empfehlen? Das heißt, alle drei Minuten einmal, denn in jedem Augenblick glaubte ich, daß dieses barbarische Spiel zu Ende, jeder Schuß der letzte sein würde.« Die beiden Sprecher waren eine kurze Zeit schweigsam: Benito dachte an die Erinnerungen aus seiner Jugend und war in Nachdenken versunken; Baraja belauschte angestrengt sozusagen das Schweigen der Steppe, in der so fürchterliche Dramen aufgeführt wurden. Der Gedanke an eine schreckliche Todesmarter, die fünf bis sechs Stunden – zuweilen länger, niemals jedoch kürzer – dauern konnte; diese 284 Büchsenschüsse, von denen der alte Hirt auch nicht einen ablassen wollte – all dies verdüsterte die Gedanken Barajas. Und doch trieb ihn eine unbesiegbare Neugierde, gegen seinen Willen den Greis noch weiter zu befragen. »Ihr glaubt also«, sagte Baraja, das Wort wieder aufnehmend, »daß vielleicht einer der Unseren den Indianern zur Belustigung gedient hat?«
    Cuchillo oder Gayferos, der Mann, den man zu seiner Suche ausgesandt hat; der eine oder der andere oder vielleicht alle beide!« antwortete Benito. »Und Gott gebe, daß sie die Kraft gehabt haben, unser Dasein an dieser Stelle nicht zu verraten!«
    »Fürchtet Ihr das?« sagte Baraja.
    »Diese Indianer sind teufelsmäßig neugierig, und sie haben Mittel, Euch Eure Geheimnisse zu entreißen,

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