Der Waldläufer
ihn der Kanadier, »und ich denke, er wird die Ruhe der Steppe dem Lärm der Städte vorziehen. Wie schweigend und feierlich ist nicht alles um uns! Sieh nur das Kind an« – er zeigte mit der Hand auf den schlafenden jungen Mann –, »es schläft sanft, eingewiegt vom Murmeln des Flusses, der dies kleine Eiland bespült, oder vom Lufthauch, der leise durch die Weiden rauscht. Sieh dort unten den Nebel« – und er zeigte auf den Horizont –, »den die Sonne zu färben beginnt; sieh die grenzenlose, unermeßliche Ebene, die der Mensch in seiner ursprünglichen Freiheit durchstreift wie der Vogel, der durch die Luftregionen schwebt!«
Der Spanier schüttelte das Haupt mit zweifelnder Miene, obgleich er von Herzen die Ansichten des Kanadiers teilte, da auch für ihn das umherschweifende Leben durch die Gewöhnung daran mit einem geheimen Zauber erfüllt war. »Sieh«, fuhr der alte Jäger fort; »diese Staubwolke, die sich am Ufer des Flusses erhebt, ist ein Haufe wilder Pferde, die ihren Durst löschen wollen, ehe sie für die Nacht ihren fernen Weideplatz wieder aufsuchen. Sieh doch, wie sie sich in der ganzen stolzen Schönheit nähern, die Gott den Tieren in der Freiheit gegeben hat! Das Auge glüht, die roten Nüstern sind weit geöffnet, die Mähne flattert durch die Luft! Ach, ich habe Lust, Fabian aufzuwecken, damit er sie sehe und bewundere ...«
»Laß ihn schlafen, Bois-Rosé! Vielleicht verleiht ihm sein Schlaf Träume, wie man sie in seinem Alter hat; anmutigere Erscheinungen, als ihm jemals die Steppe vorführen wird; Erscheinungen, an denen unsere Städte in Spanien reich sind auf den Balkonen oder hinter den vergitterten Fenstern.«
Der alte Jäger seufzte. »Indessen«, fügte er hinzu, »ist dies auch ein schöner Anblick! Ach, wie diese edlen Tiere vor Freude im Rausch ihrer Freiheit umherspringen!«
»Ja, bis zu dem Augenblick, wo die Indianer Jagd auf sie machen und sie dann vor Schreck fortrasen werden.«
»Da stürmen sie hin, schnell wie die Wolke, die der Wind vor sich hertreibt«, fuhr der Kanadier fort, der noch gegen seine eigene Überzeugung kämpfte. »Jetzt ändert sich die Szene. Halt! Siehst du den Hirsch, der von Zeit zu Zeit seine großen, leuchtenden Augen und sein schwarzes Maul in den Zwischenräumen der Bäume zeigt? Er wittert in der Luft, er lauscht. Ach, da kommt er ebenfalls, um zu trinken. Er hat Geräusch gehört, er hebt den Kopf empor; könnte man nicht sagen, daß diese Wasserfäden, die aus seinem Maul herabträufeln, flüssiges Gold sind, wenn die Sonne sie so glänzend färbt? Gewiß, ich werde das Kind wecken.«
»Laß ihn schlafen, sage ich dir; vielleicht zeigt ihm jetzt ein Traum statt dieses schönen Tieres schwarze Augen und lächelnde Rosenlippen hinter den Weiden oder irgendeine am Rand eines klaren Baches schlafende Nymphe gleich der dem Strauß entfallenen und im Gras vergessenen Blume.«
Der alte Kanadier seufzte abermals. »Ist dieser Hirsch nicht auch das Sinnbild unbegrenzter Unabhängigkeit?«
»Bis zu dem Augenblick, wo die Wölfe sich sammeln, um ihn zu verfolgen und zu zerreißen. Vielleicht würde er in unseren Tiergärten mehr Aussicht auf ein langes Leben haben. Jedes Ding zu seiner Zeit, Bois-Rosé: Das reife Alter liebt die Stille, die Jugend hat nur fröhliche Träume mitten im Lärm.«
Die Täuschung kämpfte bei Bois-Rosé noch gegen die Wirklichkeit. Das ist der Tropfen Galle, den Gott in jede Schale voll Glück träufelt: Er will nicht, daß es eine vollkommene Glückseligkeit gäbe, es würde uns sonst zu schwer werden, zu sterben; wie er ebensowenig das Unglück ohne Entschädigung dafür will, es würde uns sonst schwer werden, zu leben.
Der Kanadier senkte nachdenklich das Haupt auf seine Brust und warf, in traurige Träumereien versenkt, nur dann und wann einen verstohlenen Blick auf seinen schlafenden Ziehsohn, während Pepe wieder seine Halbstiefel aus Büffelhaut anzog.
»Ei sieh doch! Was sagte ich dir? Hörst du nicht dieses ferne Geheul? Ich wollte sagen dieses Bellen; denn jagende Wölfe bellen wie Hunde. Armer Hirsch! Er ist wahrlich, wie du sagtest, das Sinnbild des Lebens in der Steppe!«
»Soll ich diesmal Fabian aufwecken?« fragte der Kanadier mit triumphierender Miene.
»Ja, gewiß«, erwiderte der Spanier; »denn wenn seine Träume so gewesen sind, wie ich vermute, so ist, nachdem man von der Liebe geträumt hat, der Anblick einer schönen Jagd das sehenswerteste Schauspiel für einen großen Herrn, wie er
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