Der Waldläufer
Wahrheit, und zum erstenmal fühlte Oroche, wie vor der Anziehungskraft des Abgrunds, in den sein Freund ihn ohne eigene Gefahr stürzen konnte, ein eisiger Schauder über sein Gesicht lief. »Aber wir sind unser zwei nicht zu viele«, fuhr Baraja fort, »um mit Erfolg gegen unsere drei Feinde zu kämpfen.«
Oroche wurde für den Augenblick zwar wieder ruhig, war jedoch von jetzt an überzeugt, daß Baraja ebenso wie er zuerst von der Gegenwart seines Gefährten Nutzen ziehen wollte. »Einigkeit macht stark«, sagte der langhaarige Gambusino, obgleich er trotz dieses Denkspruchs lebhaft wünschte, seinen Freund nicht allzu lange der Versuchung auszusetzen, die Anwendung davon zu vergessen.
Nach Verlauf einiger Minuten, in denen zugleich mit dem feuchten Dunst der Wasserfläche, die auf dem Grund der Schlucht schäumte, der Schwindel aus der Tiefe des Abgrunds bis zu Oroche hinaufzusteigen schien, öffnete ein Windstoß abermals eine weite Lichtung im Nebel.
»Ah, Gott sei Dank!« sagte Oroche, indem er nach diesem angstvollen Augenblick wieder Atem schöpfte. »Dieser Schelm Cuchillo ist nicht mehr da!«
Der Weg war auf dieser Seite frei von Hindernissen, und die Berge waren wieder vollständig einsam geworden. Oroche spornte rasch sein Pferd zu dem Ort an, den Cuchillo eben verlassen hatte.
Die fremdartige Landschaft, in der die beiden Flüchtlinge auf gut Glück umherirrten; die Nähe des Schatzes, den jeder von ihnen einen Augenblick halb gesehen hatte, und die Aufregungen jeder Art, deren Raub sie seit dem Morgen gewesen waren – alles hatte dazu beigetragen, ihre Einbildungskraft gewaltig anzuspannen. In solcher Lage bietet das geringste Ereignis Stoff zu allerlei Vermutungen. Die Aufmerksamkeit, mit der Cuchillo vor ihren Augen einen unsichtbaren Gegenstand betrachtet hatte, reizte lebhaft die Neugier der beiden Abenteurer.
Der Weg wurde an dieser Stelle breit genug, um zwischen dem Abgrund und der Felsenwand absteigen zu können, und Oroche und Baraja stiegen zu gleicher Zeit vom Pferd, ohne sich ihre Gedanken mitgeteilt zu haben.
»Was habt Ihr vor?« fragte der erstere.
»Wahrhaftig, Ihr wißt es recht gut, daß Ihr meinem Beispiel folgt!« antwortete Baraja. »Ich will einen Versuch machen, das zu sehen, wonach Cuchillo eben so begierig blickte. Es muß sehr merkwürdig sein, wenn ich mich nicht täusche.«
»Nehmt Euch in acht; diese Felsen sind verteufelt schlüpfrig.«
»Seid ohne Furcht, und geniert Euch nicht, es ebenso zu machen wie ich.« Mit diesen Worten kniete Baraja nieder, um sich über den Abgrund zu neigen. Sechs Schritt vor ihnen stürzte sich der Wasserfall aus einer Art von Luftloch und durchschnitt den Pfad, der eben über diesen gähnenden Abgrund sich hinschlängelte und eine Art natürlicher Brücke darüber bildete.
Oroche nahm sein Pferd beim Zügel und setzte mit ihm über die steinige Wölbung, die sich über dem Wasserfall gebildet hatte. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, die er anwenden zu müssen glaubte, und einige Augenblicke nachher lagen die beiden Freunde, ohne einander sehen zu können, platt auf der Erde, beugten den Kopf über den Abgrund und warfen einen gierigen Blick nach unten. Ungeachtet ihres Vorsatzes, eine günstigere Zeit gegenseitig abzuwarten, fühlte sich doch jeder freier und leichter, wenn er von seinem Begleiter etwas entfernt war.
Derselbe Anblick traf beide zugleich und ließ in ihrem Kopf abermals mörderische Gedanken entstehen, die sie einen Augenblick aufgeschoben hatten. Der zwischen dem Wasserfall und dem Felsen funkelnde Goldklumpen, der Cuchillo einen wilden Schrei entrissen hatte, hätte auch ihnen beinahe einen ähnlichen entlockt; es war jedoch nötig, sich zu verstellen und im Zaum zu halten. Dies geschah aber nicht ohne eine übermenschliche Anstrengung.
Wie ein funkelnder Diamant in der Krone eines Königs von Golkonda; wie ein von der Sonne losgerissener und in den Felsen haftender Sonnenstrahl; wie ein offenes, zauberkräftiges Auge, das über dem Abgrund schwebte – so strahlte der kolossale Goldklumpen Garben bleichen Lichts aus und schien die Hand des Menschen einzuladen, dieses wunderbare, freigebige Geschenk der Natur nicht vom gähnenden Abgrund verschlingen zu lassen.
Doch der unermeßliche Abgrund verteidigte schrecklicher als der Drache, der das Goldene Vlies bewachen mußte, seinen Schatz, den er mit den feuchten Dünsten der Tiefe liebkosend umhüllte, gleich dem Atem des immer wachsenden Ungeheuers, das die
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