Der Waldläufer
sein Ohr als das Rauschen des Abgrunds. Nach Verlauf einer Minute berührten seine Füße, dann sein Leib, endlich seine Hände den Goldklumpen. Er konnte seine gerundete Außenseite liebkosend betasten, die Festigkeit seiner Lage im Gestein untersuchen. Der Abgrund grollte nicht mehr drohend unter ihm; er sang sanfte Weisen wie der Bach der murmelnd dahinfließt und die süßesten Träume hervorruft.
Die zusammengezogenen Finger des Gambusinos erschütterten den Block; er widerstand anfänglich; bald jedoch bewegte er sich im Felsen wie das Kind, das sich eben dem Schoß seiner Mutter entwindet und das Licht der Welt erblickt. Zwei gierige Hände genügten kaum, ihn zu umspannen; eine schlecht angebrachte Anstrengung konnte ihn dem Felsen, der ihn umschloß, entreißen und in den Abgrund stürzen lassen. Oroche atmete nicht mehr, und Baraja, der sich über ihm vorgebeugt hatte, teilte seine Angst.
Das Echo des Abgrunds wiederholte zweimal einen zweifachen Schrei: das Triumphgeschrei Oroches und seines Gefährten – der Goldklumpen funkelte in den Händen des Räubers. Wie der Adler, der sein Junges aus dem unzugänglichen Horst rauben sieht, in dem er es verborgen hatte, so schien der Abgrund, indem er das Geschrei wiedergab, den Raub zu beweinen, den man ihm entriß.
»Zieht mich schnell empor, bei der Liebe Gottes!« sagte Oroche mit bebender Stimme. »Ich trage sechzig Pfund gediegenen Goldes in meinen Armen. Ach, ich hätte mich nicht für so stark gehalten!«
Baraja zog anfänglich die Leine mit krampfhaftem Eifer empor, bald jedoch langsamer, und dann hörte er plötzlich mit jeder Anstrengung auf. Die Hände Oroches waren noch nicht in gleicher Höhe mit der Plattform.
»Auf Baraja, noch einmal!« sagte Oroche. »Spannt das Seil an, und ich bin bei Euch.«
Aber Baraja blieb unbeweglich. Ein teuflischer Gedanke blitzte durch seine verwirrten Ideen. »Gebt mir diesen Goldblock!« sagte er. »Er macht Eure Anstrengungen vergeblich, und meine Kräfte sind zu Ende.«
»Nein, nein, tausendmal nein!« rief der Gambusino, dessen Stirn von einem plötzlichen Schweiß triefte und der seinen Schatz in seine Arme preßte. »Ich würde Euch eher meine Seele geben. Aha«, fuhr er fort, »Ihr würdet dann loslassen!«
»Wer sagt Euch denn, daß ich Euch nicht jetzt loslasse?« antwortete Baraja mit dumpfem Ton. »Euer eigenes Interesse«, erwiderte der Gambusino, dessen Stimme zitterte.
»Wohlan! Ich will Euch nicht loslassen – doch nur unter einer Bedingung: Ich will dieses Gold für mich allein haben ... für mich allein, versteht Ihr? Gebt es mir ... oder ich überlasse Euch dem Abgrund!«
Oroche schauderte bis ins Mark seiner Gebeine. Beim Anblick des bleifarbigen Gesichts Barajas verwünschte der Unglückliche einen Augenblick sein tolles Vertrauen. Er wollte eine Anstrengung versuchen, aber die Last, die er trug, machte die Kraft seiner Arme vergeblich. Er blieb unbeweglich wie der Mann, in dessen Händen sein Leben lag.
»Ich will dieses Gold, versteht Ihr?« wiederholte Baraja. »Ich will es haben, oder ich lasse die Leine los ... oder schneide sie durch.« Und er zog einen scharfen Dolch aus seinem Gürtel.
»Lieber will ich sterben!« rief Oroche. »Lieber soll der Abgrund mich verschlingen und das Gold mit mir!«
»Die Wahl steht Euch frei«, wiederholte der Elende.
»Euer Gold für Euer Leben.«
»Ah! Ihr würdet mich töten, wenn ich es Euch auch gäbe.«
»Gut«, sagte Baraja, der langsam eine der sechs Schnüre des Seils zerschnitt, indem er dem Unglücklichen zurief, daß es noch Zeit sei, sich zu entscheiden.
44 Die beiden Mediana
Kehren wir nun zu einem Teil unserer Erzählung zurück, den wir einen Augenblick unterbrochen haben. Diaz schüttelte bald die schmerzliche Niedergeschlagenheit und das tiefe Erstaunen von sich ab, das ihn einen Augenblick überwältigt hatte. »Ich bin euer Gefangener nach den Gesetzen des Krieges«, sagte er, indem er langsam den Kopf hob, »und warte darauf, zu erfahren, was ihr über mich entscheiden werdet.«
»Ihr seid frei, Diaz«, sagte Fabian; »frei ohne Bedingungen.«
»Keineswegs!« fiel Bois-Rosé ein. »Wir legen Euch vielmehr eine unerläßliche Bedingung für Eure Freiheit auf.«
»Welche?« fragte der Abenteurer.
»Ihr wißt jetzt wie wir«, erwiderte Bois-Rosé, »ein Geheimnis, das uns schon seit langer Zeit bekannt war. Ich habe meine Gründe, daß die Kenntnis von diesem Geheimnis mit denen sterbe, die so unglücklich gewesen sind, es
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