Der Waldläufer
beim Feuer niederzulegen und zu schlafen, denn die Müdigkeit scheint Euch zu überwältigen.«
»Ich habe wirklich seit achtundvierzig Stunden so viele Ereignisse Schlag auf Schlag erlebt«, antwortete Tiburcio, »daß es mir vorkommt, als ob ich ein Jahrhundert gelebt hätte; und in diesem Augenblick scheint sich alles im Kreis um mich herum zu drehen. Was das Essen anbetrifft, so danke ich Euch; der Schlaf wird mir die Kräfte wiedergeben, die ich in der kritischen Lage, in der ich mich befinde, nötig habe. Ich bitte Euch nur noch um einen Dienst – nämlich den, mich nicht zu lange schlafen zu lassen.«
»Gut, gut!« sagte Pepe seinerseits. »Ich frage Euch nicht, warum; aber wenn Ihr vorhabt, die Hacienda in Belagerungszustand zu erklären, so bin ich da, und ich habe gute Augen, die Euch zu Diensten stehen! Also schlaft ruhig ein!«
Tiburcio streckte sich lang auf dem Gras nieder, und nachdem er abermals seine beiden Gastfreunde gebeten hatte, ihn kurz vor Tagesanbruch zu wecken, versenkten ihn die Müdigkeit und die aufregenden Gefühle, die er empfunden hatte, sehr bald in einen fast lethargischen Schlaf.
Der Kanadier betrachtete ihn schweigend einige Augenblicke, wandte sich dann an Pepe und sagte: »Wenn die Gesichtszüge nicht trügerisch sind, so glaube ich nicht, daß wir es bereuen werden, diesen armen Burschen aufgenommen zu haben.«
»Ich hatte schon Mißtrauen in ihn gesetzt«, antwortete Pepe; »aber das Zeugnis an seinem Arm beweist mir, daß er keine Freunde unter dem Dach, das er verläßt, gefunden hat, und es wird nur an ihm liegen, ob ich der Seinige werden soll.«
»Wie alt mag er wohl sein?« fragte Bois-Rosé, dessen Gesicht die ganze Teilnahme verriet, die er bei seiner Frage empfand.
»Er ist nicht älter als 24 Jahre, dafür stehe ich!« antwortete der gewesene Grenzsoldat. »Das meinte ich auch«, sagte der Kanadier, der mehr mit sich als mit seinem Freund zu reden schien, während ein wehmütiger Ausdruck seine rauhen Gesichtszüge sanfter erscheinen ließ; »das ist das Alter, das er haben muß, wenn er noch lebt.« Und ein Seufzer entwand sich gegen seinen Willen seiner breiten Brust.
»Wer denn? Wen meinst du?« unterbrach ihn rasch der Spanier, in dessen Seele diese Worte zufällig ein Echo zu finden schienen. »Solltest du jemand kennen ...?«
»Das Vergangene ist vergangen, sage ich dir«, erwiderte Bois-Rosé; »und wenn etwas nicht mehr da ist, dessen Dasein man gern wünschte, so ist es das beste, es zu vergessen. Doch still – lassen wir diese traurigen Erinnerungen! Es würde mir den Appetit rauben, wollte ich mich noch länger dem überlassen, was nicht mehr ist, oder noch länger auf das hoffen, was nicht sein kann. Ich habe einsam in den Wäldern gelebt und muß einsam sterben, wie ich gelebt habe.«
Der ehemalige Soldat, dem die Vergangenheit – obgleich aus einem ganz anderen Grund – ebensowenig freudvoll zu sein schien, sagte nichts mehr über diesen Gegenstand. Beide wechselten plötzlich die Unterhaltung und machten sich, so gut es anging, daran, die Gegenwart zu feiern, deren Symbol für sie die Hammelkeule war – oder vielmehr der Rücken, der allein noch übrigblieb. Daraus folgte denn, daß trotz des guten Willens der beiden Tischgenossen, die Mahlzeit zu verlängern, diese doch endlich ein Ende nehmen mußte.
»Wenn ich das Vergnügen hätte, diesen Don Agustin, der der Besitzer der benachbarten Hacienda zu sein scheint, persönlich zu kennen, so würde ich ihm ein Kompliment über seine ganz besonders wohlschmeckenden Hammel machen«, sagte Pepe, einen tiefen Seufzer leiblichen Wohlbehagens ausstoßend; »besonders wenn man sie in eine dicke Lage Oregano einwickelt, um ihr Fleisch duftig zu machen. Und wenn nur seine Pferde von gleicher Güte zum Reiten sind, so werde ich sehr glücklich sein, eins von ihnen entleihen zu können.«
»Was?« fragte Bois-Rosé. »Bist du nicht mehr mit dem deinen zufrieden?«
»Nein, gewiß nicht! Du weißt wohl, da wir unsere Verfolgung in eine Belagerung verwandelt haben, so muß ich wenigstens mit einem guten Pferd auf jeden Fall versehen sein; ich habe hier meinen Sattel, und somit werden wir wie jede wohl organisierte Streitkraft Infanterie und Kavallerie haben. Ein Pferd weniger wird keine größere Lücke in den Scharen, die diese Wälder durchfliegen, zurücklassen als ein Hammel in den Herden – und mir wird es von großem Nutzen sein.«
»Gut«, sagte der Kanadier. »Ich denke nicht, daß du dem
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