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Der Waldläufer

Titel: Der Waldläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Ferry
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den Überresten eines Taschentuchs und zog gewaltsam ein prächtiges Tier ans Feuer, dem der Schrecken ein noch herrlicheres Aussehen verlieh, denn mit Ausnahme des Menschen, der von Natur König der Schöpfung ist und den die Furcht erniedrigt und herabwürdigt, verleiht sie fast allen Tieren noch eine Schönheit mehr. Dieses hier stemmte sich auf seine feinen Füße, die wie gespannte Saiten zu zittern schienen; der Hals war weit vorgestreckt, die Ohren gespitzt und nach vorn gerichtet; zwischen ihnen fiel ein Bündel Haare auf ein wildes Auge herab; der ganze Leib zitterte, die Nüstern dehnten sich und zogen sich wieder zusammen – kurz, es war der vollkommenste Typ jener mexikanischen Rasse, die mit der arabischen wetteifert – ein Tier, um einem Pascha Lust zu machen.
    »Ich habe eine glückliche Hand gehabt, nicht wahr?« sagte Pepe mit zufriedener Miene, während er den Renner fest an den Stamm einer Eiche band.
    »Sofern dein Vorhaben dir ebensogut gelingt, wird alles ausgezeichnet gehen«, antwortete Bois-Rosé, der trotz seiner Geringschätzung des Pferdes im allgemeinen doch nicht umhin konnte, dieses hier zu bewundern; »aber ich zweifle daran. Bis dahin leg dich schlafen; ich meinesteils habe es schon genug getan und will für dich wachen.«
    »Ich habe es wohl verdient«, erwiderte Pepe, »und werde deinen Rat befolgen.« Mit diesen Worten streckte er sich aufs Gras, und bald hatte sich seiner ebenfalls der Schlaf bemächtigt; dieser ist ein Gast, der in den Wäldern nicht auf sich warten läßt, in welcher Lage man sich auch dort befinden mag.
    Obgleich unter den gegenwärtigen Verhältnissen nichts diese Vorsichtsmaßnahmen rechtfertigte, so war die Macht der Gewohnheit in einem Leben voll Gefahren doch so groß, daß auch im Freundesland der eine wachte, während der andere schlief. Der Kanadier erhob sich also von seinem Mooslager, streckte seine gewaltigen Glieder, ging einige Minuten auf und ab, um den letzten Rest von Schlaf abzuschütteln, und setzte sich dann dicht bei der Feuerstelle, mit dem Rücken an den Stamm eines Korkbaums gelehnt, nieder. Der Glanz des Feuers beleuchtete vollständig sein Gesicht, auf dem tiefe Furchen mehr von den Anstrengungen als vom Alter eingegraben waren; seine beiden schlafenden Gefährten lagen tief im Schatten. Mitten in dem tiefen Schweigen der Natur, in einem jener feierlichen Augenblicke des Nachdenkens, wo das ganze Leben in der Erinnerung noch einmal durchlebt wird, hätte man leichter in seinen ruhigen Zügen eine Vergangenheit ohne Vorwurf und ohne Gewissensbisse lesen können. Unbeweglich wie eine Statue schien er das schönste Ebenbild der wachsamen Kraft.
    Wenn es aber auch in der Kraft des Menschen liegt, sein Leben so zu gestalten, daß er ohne Bedauern zu jeder Stunde und an allen Orten in den Schacht seines Herzens hinabsteigen kann, so verfügt doch eine höhere Macht als sein Wille frei über Ereignisse, die noch nach vielen Jahren traurige Erinnerungen im Herzen erwecken können. Beim Anblick des schlafenden Tiburcio flog dann und wann ein wehmütiger Zug wie eine Wolke über die Stirn des Kanadiers; sein Anblick schien eine schlecht geschlossene Wunde wieder zu öffnen.
    Bois-Rosé erhob sich vorsichtig, näherte sich dem jungen Mann und neigte sich über ihn, um ihn aufmerksamer zu betrachten. Nachdem er ihn lange Zeit genau angesehen hatte, ging er schweigend zurück.
    »So alt müßte er wohl sein, wenn er noch lebt«, sagte er mit leiser Stimme vor sich hin; »aber wie in dieser Haltung, in diesen Zügen eines jungen Mannes, in seiner ganzen Kraft diejenigen eines Kindes wiedererkennen, das kaum vier Jahre alt war, als es mir entrissen wurde?« Ein Lächeln des Zweifels flog um seinen Mund, als ob er gezwungen wäre, die Torheit seiner Gedanken selbst anzuerkennen. »Und doch«, fuhr er fort; »ich bin der Spielball von zu vielen Ereignissen gewesen; ich habe zu lange mitten in der Natur gelebt, um an der Allmacht der Vorsehung zu zweifeln. Warum sollte sie kein Wunder tun? War es nicht ein solches, das mich auf dem Ozean ein Kind hat finden lassen, das auf dem Schoß seiner ermordeten Mutter dem Hungertod nahe war? Warum sollte ich es nicht wiederfinden in der ganzen Kraft der Jugend? Warum sollte es nicht abermals zu mir gewiesen sein, um von mir Hilfe und Schutz zu verlangen? Wer weiß? Sind die Wege Gottes nicht unerforschlich?«
    Als ob diese Gedanken eine gewisse Überzeugung in seiner Seele hervorgerufen hätten, erhob sich

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