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Der Waldläufer

Titel: Der Waldläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Ferry
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gekrümmten Adlernase die Unbeugsamkeit des Willens und die Gewalt der Leidenschaft zu lesen.
    Das war ein unterscheidender Zug, den Tiburcio – oder vielmehr Fabian – von seiner Mutter hatte.
    Die wie Ebenholz schwarzen Haare Doña Luisas rahmten in zwei glänzenden Flechten ein Gesicht ein, das verführerisch während der Ruhe war, das bezaubernd in der Aufregung und von einer schrecklichen Schönheit im Zorn sein mußte. Ihre Hände endlich waren von blendender Weiße und der Form nach vollkommen; ihre Füße klein und zart, ihre Taille elegant; alles an der Gräfin rechtfertigte die Leidenschaft, die zwei Brüder für sie hatten ergreifen können, denn wir müssen es gestehen, daß der Wunsch, seine Familie nicht aussterben zu lassen, nicht der einzige Grund zur Heirat Don Juans de Mediana mit Doña Luisa gewesen war.
    Nach einigen Minuten tiefen Nachsinnens nahm die Gräfin eine Lampe, die sie auf einen Leuchterstuhl setzte, daß ihr Schein die Züge ihres in der Wiege schlafenden Sohnes beleuchtete. Dieser schlief jenen tiefen Schlaf der Kindheit, der zu sehr dem Tod gleichen würde, wenn man nicht sozusagen Leben und Blut unter dem leichten Gewebe, das sie umgibt, ihren Kreislauf vollenden sähe. Sie betrachtete lange Zeit dieses kindliche Gesicht, das halb unter einer Flut von Haaren von jenem hellen Kastanienbraun verborgen war, das später ein schönes schwarzes Haar zu werden verspricht; aber ihre Blicke schienen auf seinen rosigen Wangen und seinen roten Lippen mit ebensoviel Neugier wie Zärtlichkeit zu ruhen. Man hätte sagen können, daß sie in den Zügen ihres Kindes die Zukunft zu lesen versuchte.
    Die Gräfin machte es nun wie alle Mütter im gleichen Fall: Sie drückte einen leidenschaftlichen Kuß auf seine Wangen, gleichsam, um ihren Sohn mit einem schützenden Zauber zu umgeben oder ihn zu versichern, daß wenigstens die Mutterliebe ihm nie im Leben fehlen solle.
    Über der Wiege hing eines der großen Gemälde, die sich an den Wänden des Zimmers befanden. Die Strahlen der Lampe beleuchteten es jetzt vollständig. Die Personen, die es darstellte, waren ein Knabe von fünfzehn oder sechzehn Jahren mit stolzem Blick und ausgezeichneter Haltung, der den Ellbogen auf die Lehne eines großen Sessels gestützt hatte, in dem ein kleines Kind schlief; sein stolzes, auf seinen Bruder gerichtetes Auge – denn die Familienähnlichkeit war auffallend – war nicht ohne Ausdruck einer lebhaften Zärtlichkeit. Diese Gruppe schien das Sinnbild, die lebendige Erklärung des Wappens zu sein, das man an einer oberen Ecke des Gemäldes bemerkte, mit der Unterschrift: »Ich werde wachen.«
    Durch ein sonderbares Zusammentreffen hatte das schlafende Kind in der Wiege eine auffallende Ähnlichkeit mit demjenigen, das seit dreißig Jahren in seinem gotischen Lehnsessel schlief.
    Als die Gräfin – nachdem sie ihren Sohn auf den sie sich niederbeugte, geküßt hatte – ihre Augen erhob, schien sie diese Ähnlichkeit zum erstenmal zu bemerken, denn sie bebte zurück, und eine düstere Wolke überflog ihr Antlitz. »Armes Kind«, sagte sie halblaut, »möge Gott dich vor einem ähnlichen Schicksal wie dem seinigen bewahren!« Sie nahm die Lampe weg, deren Schein die brüderliche Gruppe beleuchtete, und das Gemälde trat wieder in den Schatten zurück wie eine verschwindende Erscheinung.
    In der Stille der Nacht gibt es Augenblicke, wo alles eine doppelte Stärke und Wichtigkeit erhält. Das leichteste Geräusch draußen wird vernehmbar; das Krachen eines Möbels wird erschreckend. Ebenso ist es mit den Stimmen im Innern: Diejenigen, die am Tag schweigen, lassen sich des Nachts hören; diejenigen, die am Tag nur leise murmeln, schallen des Nachts wie eine Trompete – man ist gezwungen, sie zu hören. Hatte die Einsamkeit, die Stille oder etwa der Anblick jenes Gemäldes bei der Gräfin eine dieser schlafenden Stimmen geweckt? War es das Gewissen? War es eine Ahnung? Immerhin ist es gewiß, daß sie in diesem Augenblick noch viel bleicher war als sonst.
    Indessen nahm ihr Gesicht, als ob das Nachdenken leere Schreckbilder aus ihrer Phantasie verjagt hätte, bald wieder den stolzen Ausdruck an, den es gewöhnlich zeigte. Sie setzte sich wieder auf ihren Platz an einem Fenster des Zimmers, dessen Ruhe nur gestört wurde durch die Stöße des Seewinds, der unaufhörlich auf dem Gipfel der hohen Felsenabhänge Elanchoves braust.
    Plötzlich mischten sich schrillere Töne in die Seufzer der Brise, und der Klang einer

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