Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Waldläufer

Titel: Der Waldläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Ferry
Vom Netzwerk:
sagtet, und wie ich glaube: Es sind Träume, die ich vielleicht für Wirklichkeit nehme.«
    »Ganz ohne Zweifel ist es so«, erwiderte Bois-Rosé etwas verstimmt. »Welches Kind erinnert sich noch genau?«
    »Und unter diesen Träumereien«, sagte Tiburcio, »sehe ich jetzt eine sonnverbrannte, rauhe Gestalt, aber gutmütig bei aller Rauheit.«
    »Welche Gestalt?« fragte Bois-Rosé, indem er abermals sein Antlitz dem Licht zukehrte, auf dem das Feuer die angespannten Muskeln beleuchtete, während seine Brust sich wie ein Berg hob und senkte.
    »Diese Gestalt«, fuhr Tiburcio fort, »ist die eines Mannes, der mich sehr liebte, denn«, fügte er lebhaft hinzu, »ich erinnere mich jetzt an diesen Mann!«
    »Aber Ihr«, erwiderte Bois-Rosé, während Angst sich auf seinen Zügen malte; »liebtet Ihr ihn auch sehr?«
    »Er war ja so gut zu mir!«
    Eine Träne floß langsam auf die bronzene Wange Bois-Rosés, der aus Scham über seine Schwäche sich wegwandte, um sie zu verbergen; er kehrte wieder in den Schatten zurück und murmelte: »Ach! Er hat mich auch zärtlich geliebt!«
    Dann, in dem Augenblick, wo er eine trostlose Überzeugung gewinnen oder das Kind, das er beweinte, wiederfinden mußte, bebte dieser rauhe Jäger unfreiwillig vor einer letzten Frage zurück, die die Hoffnung, von der seine Seele bewegt wurde, bestätigen oder sie für immer vernichten mußte. Endlich wagte er mit stockender Stimme diese entscheidende Frage, nicht ohne daß sein Herz sich in seiner Brust krampfhaft zusammenzog: »Erinnert Ihr Euch nicht vor allem eines Umstands, in dessen Folge dieser Mann von Euch getrennt wurde mitten in ...« Der Mut, weiterzusprechen, verließ ihn, und das Haupt auf seine Knie gestützt, erwartete der Koloß zitternd die Antwort auf seine Frage.
    Sei es, daß Tiburcio sich dieses Umstands nicht erinnerte, oder war es im Gegenteil der Lichtstrahl, der in tiefe Nacht hineinfällt und Zweifel und Ungewißheit zerstreut – ein feierliches Schweigen folgte dieser Frage; ein Schweigen, während dessen der knisternde Laut brechender Zweige im Wald vor den keuchenden Atemzügen des Kanadiers nicht gehört wurde.
    »Hört!« rief Tiburcio. »Ihr, der Ihr der Leuchtturm zu sein scheint, der mich führt, hört, woran ich mich jetzt erinnere.
    Eines Tages war Blut überall, der Boden zitterte unter meinen Füßen; der Donner – oder vielleicht waren es Kanonen – grollte mit schrecklicher Gewalt; ich fürchtete mich in meinem dunklen Zimmer, wo ich eingeschlossen war. Jener Mann – der, der mich liebte – kam zu mir ...«
    Tiburcio hielt einen Augenblick inne, als ob er die formlosen Gestalten, die sich vor ihm aufrichteten, wieder zu ordnen suchte; als ob er der unbestimmten Klänge, die nach so vielen Jahren noch an sein Ohr schlugen, sich erinnern wollte.
    »Wartet!« fuhr er fort. »Dieser Mann sagte zu mir: ›Knie nieder, mein Kind, und bete für deine Mutter ...‹ Aber weiter weiß ich nichts ...«
    Während dieser Zeit schien der Kanadier, der ganz im Schatten saß, das Haupt auf seine Knie gebeugt, von krampfhaften Zuckungen ergriffen zu werden; ein Schluchzen ließ sich vernehmen, und Tiburcio bebte beim Klang der gebrochenen Stimme Bois-Rosés, der rief: »Und bete für deine Mutter, die ich sterbend bei dir gefunden habe!«
    »Ja, ja!« rief Tiburcio, der sich mit einem Sprung erhob. »Geradeso heißt es! Aber Ihr – wer seid Ihr, daß Ihr wissen könnt, was sich in diesem schrecklichen Augenblick ereignet hat?«
    Der Kanadier erhob sich, ohne zu antworten, und niederkniend zeigte er noch einmal sein männliches, rauhes Gesicht, von Tränen überströmt, und rief trunken vor Gemütsaufregung: »O mein Gott! Ich wußte wohl, daß, wenn er noch eines Vaters bedurfte, du ihn zu mir gesandt haben würdest! Fabian! Fabian! Ich bin es ... ich bin dieser Mann ...«
    Ein Blitz erhellte das Gesträuch; ein Schuß folgte und schnitt ihm das Wort vom Mund ab; eine Kugel schlug pfeifend dicht bei Tiburcio in die Erde. Pepe erwachte und sprang rasch auf die Füße.

23 Noch immer gilt der Satz: Wo die Macht ist, ist auch das Recht
    Es ist nötig, daß wir hier auf die Vergangenheit zurückkommen, um eine Lücke in den vertraulichen Mitteilungen, die der gewesene Soldat und Küstenwächter wegen seiner früheren Verbindungen mit Don Estévan dem Kanadier gemacht hatte, zu vervollständigen. Pepe hätte sagen können, daß der Unbekannte, den er in jener Nacht an der Küste Elanchoves hatte landen lassen, niemand

Weitere Kostenlose Bücher