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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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Assistenz bei vielen Wundbehandlungen und für die Inspiration, die du mir bei der Erforschung der Kräuter gegeben hast«, hatte er am gestrigen Abend gesagt. »Es ist ein Duplikat, in dem manche Illustrationen sogar noch schöner gelungen sind als im Original.« Zögernd hatte Vitus nach dem kostbaren Exemplar gegriffen. »Ich weiß
    nicht, wie ich Euch danken soll. Ich ...« Ihm hatten vor Freude die Worte gefehlt.
    »Lass nur, Vitus. Wie du siehst, wird das Buch an der offenen Seite durch ein starkes Schloss zusammengehalten. Der Grund dafür ist einfach: Das Buch kann Leben retten, aber auch den Tod herbeiführen - wenn es in falsche Hände gerät. Gib deshalb immer darauf Acht.« Der hagere Mann hatte ihm ein ledernes Band über den Kopf gestreift, an dem der Schlüssel zum Schloss hing. »Lebe wohl, Vitus, der Herr sei mit dir und halte seine Hände schützend über dich!« Neben einigen Heilpflanzen und chirurgischen Instrumenten, die ebenfalls im Geheimfach lagen, war dies schon alles, was er bei sich trug.
    Ähnlich versteckt wie das Buch waren auch das rote Damasttuch und die Goldescudos: geschützt vor neugierigen Blicken trug er das Tuch direkt auf dem Leib; die Escudos hatte er im Saum seines Mantels eingenäht, Stück für Stück, damit sie beim Gehen nicht gegeneinander klirrten. Nachdem auch der Kapaun verstaut war, schulterte er die Kiepe erneut und marschierte entschlossen los. Der Weg führte in sanften Biegungen vom Kloster fort. Links und rechts traten vereinzelt graue Gesteinsblöcke auf, unterbrochen von niedrigen, immergrünen Bodenpflanzen. Langsam schob die Sonne sich am Horizont empor, gewann an Kraft und sandte ihre ersten warmen Strahlen zur Erde. Nach vier Meilen führte der Weg durch einen torähnlichen Felsen, in dessen Innerem ein Madonnenschrein zum Gebet einlud. Vitus murmelte ein rasches Ave-Maria, bevor er auf der anderen Seite den Weg nach Porta Mariae einschlug, einem Ort, der seinen Namen dem Felstor verdankte. Hier traf er außer ein paar gackernden Hühnern und ein paar tratschenden Frauen niemanden an, denn an diesem Tag fand kein Markt statt.
    Er verließ den Ort. Nach einer weiteren Meile erreichte er den Pajo, ein Flüsschen, dessen Bett im Sommer regelmäßig ausgetrocknet war. Doch jetzt führte es noch reichlich Wasser. Er trat ans Ufer. Mitten im Fluss entdeckte er einen Ginsterbusch, an dem die Fluten gurgelnd vorbeischössen. Prüfend tauchte er einen Fuß ins Wasser. Die Strömung war stark, aber der Busch stand da wie ein Fels, breit ausladend und mannshoch. Vitus fühlte sich unwiderstehlich von ihm angezogen.
    Ohne nachzudenken, watete er durch das Wasser, bis er ganz dicht davorstand. Sein Blick fiel auf einen Zweig, der sich durch seine Beschaffenheit von allen anderen unterschied: Er war gerader und stärker und von besonderer Ebenmäßigkeit. Vitus beugte sich vor. Seine Finger reichten knapp heran. Er griff zu und zog, doch es war, als wollten die anderen Zweige ihm das Gewünschte verwehren, so widerspenstig zeigten sie sich. Endlich, nach einem heftigen Ruck, kam etwas ans Licht, das aussah wie ein Wanderstecken: zwei Männerdaumen dick und gute fünf Fuß lang. An einem Ende war der Stecken halbrund gebogen - wie ein Jakobsstab.
    Staunend bemerkte Vitus, wie ausgewogen er in seiner Hand lag. Er packte ihn fest und spürte, wie die Wärme des Holzes in seine Arme überging. Probehalber ließ er ihn durch die Luft sausen. Einmal ... zweimal ... dreimal. Das singende Geräusch machte ihm Mut.

    »So ein Mist!« Ozo fluchte leise vor sich hin. »Nie geht etwas so, wie ich's will!« Er hockte am Rande einiger Haselnussträucher, die den Weg nach Punta de la Cruz säumten, und starrte trübselig auf eine kleine Schafherde, die ungeachtet seiner Laune friedlich auf den Flußwiesen des Pajo graste. Wieder einmal hatte sich kein anderer finden lassen, um auf die blöden Viecher aufzupassen!
    Und alles nur, weil die Alten immer bestimmten. Dabei war er mit seinen vierzehneinhalb Jahren selber schon so gut wie erwachsen. Er war ein Mann, der wusste, was er zu tun und zu lassen hatte! Zum Angeln hatte er heute Morgen gehen wollen, aber wie immer war seine Mutter anderer Meinung gewesen. Eine Predigt hatte sie ihm gehalten über die Aufgaben von Knaben in seinem Alter, von den allgemeinen Pflichten eines Kindes und von der Freude, die man seinen Eltern, besonders aber seiner Mutter, machen sollte, und so weiter und so weiter ... Eine endlose Litanei, die er

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