Der Wanderchirurg
einmal. Er trug den Suppentopf bis zur Mitte des Raums und setzte ihn dort krachend ab. Ein Teil der Brühe schwappte über den Rand. Keiner sagte etwas, auch Martinez nicht. Nunu schob noch eine Holzschüssel mit Hartbrot nach. »Hau dich voll, Bursche«, sagte er zu Martinez. »Vielleicht wirste dann noch mal so stark wie ich!« Er schlurfte hinaus.
»Blödes Arschloch«, sagte Martinez. Aber er sagte es, nachdem Nunu schon draußen war. Und er sagte es ziemlich leise. Der Magister stand auf und klopfte sich das Stroh von der zerlumpten Hose. »Dann wollen wir mal.«
Er blickte in den Topf. »Ich sehe, es gibt die Suppe, die es immer gibt. Etwas anderes hätte mich auch überrascht.«
Er nahm den Schöpflöffel zur Hand und wandte sich an Martinez. »Die Brühe ist undefinierbar, aber ich nehme an, dass auch du nicht zu den Verwöhnten im Lande gehörst. Du wirst sie deshalb runterkriegen. Lass uns jetzt gemeinsam essen, und wir vergessen, was vorgefallen ist. Ich mag keinen Streit.«
»Wer verteilt die Suppe?«, fragte Martinez abwartend.
»Ich«, antwortete der Magister, »das hat sich so eingespielt. Ich habe die meiste Übung darin, und ich sorge dafür, dass jeder die gleiche Menge erhält.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Misstraust du mir etwa? Ich garantiere bei allem, was mir heilig ist, dass jeder die gleiche Portion erhält.«
Das ist es ja gerade, was ich vermeiden will, du Rechtsverdreher!, dachte Martinez. Laut sagte er: »Beim Essenfassen vertraue ich niemandem, nur mir selbst!« Das war, wie sich in seinem langen Soldatenleben herausgestellt hatte, die sicherste Methode, um an größere Portionen heranzukommen. »Gib schon her!« Er riss dem Magister den Schöpflöffel aus der Hand. »Wer was zu fressen haben will, stellt sich an!«
Am Morgen danach kam Nunu ungewöhnlich früh.
Er stapfte quer durch die Zelle geradewegs auf Vitus zu. »Der Ketzerdokter zum Verhör inne Bürgermeisterei!«
Seine Hand schoss vor, packte Vitus, der noch nicht richtig wach war, und stellte ihn auf die Beine. »Mach schon, 's is nich gut, wenn der Inquisitor warten muss.«
Vitus spürte Angst in sich hochsteigen. »Was wirft man mir vor?« Seine eigene Stimme klang ihm fremd: »Du hast doch sicher etwas gehört?«
»Ich weiß nix, bei der Jungfernschaft der Heiligen Mutter Gottes!« Der Koloss schob Vitus zum leeren Suppenkessel.
»Tragen!«, befahl er. »Wennste schon mit rausgehst, kannste den auch tragen.«
Hochwürden Ignacio hatte beschlossen, andere Saiten aufzuziehen. Er war nicht länger gewillt, untätig zuzusehen, wie das Ketzertum in Nordspanien immer mehr um sich griff. Im letzten Jahrzehnt war es auf der Iberischen Halbinsel, wenn man von einem guten Dutzend Hexenprozessen in Aragon und Navarra absah, zu erschreckend wenig Anklagen gegen Häretiker gekommen. Ganz anders als in Italien, Deutschland, Ungarn, Böhmen, England oder Schottland, wo die Inquisitoren kurzen Prozess machten.
Doch nun war er, Gonzalode Ignacio, da, und erste Erfolge hatten sich bereits eingestellt, wie der Prozess gegen die Ketzer Pablo Sategui und Lonzo Ärbol bewies. Ein Fall, der allerdings ohne sein Wollen eskaliert war und zum Autodafe geführt hatte. Beide Ketzer hatten sich standhaft geweigert abzuschwören, obwohl es ihnen wieder und wieder anempfohlen worden war. Sie hatten hartnäckig darauf bestanden, ganz normale Menschen zu sein. Wie konnte sich jemand als normal bezeichnen, der einen anderen Mann liebte! Er zog verächtlich die Nase hoch und ordnete ein paar Pergamente. Ohne aufzublicken, tastete seine Hand nach einer Schale mit Nüssen. Er nahm eine, steckte sie in den Mund, mummelte wie ein Hase und nahm sie wieder heraus. Er betrachtete sie, grunzte zufrieden und tauchte sie in ein Töpfchen mit feinstem weißem Zucker. Die Nuss verschwand zwischen seinen schmalen Lippen. Es gab einen suckelnden Laut.
Seine Gedanken kehrten zu den beiden Ketzern zurück. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man ihre Verbrennung vermieden, es wurde hinterher immer viel geredet - und noch mehr gefragt. Dazu kam, dass die beiden arm wie die Kirchenmäuse gewesen waren und nichts hinterlassen hatten. Ein ärgerlicher Umstand, denn der Heilige Vater in Rom pflegte sich für Zuwendungen nicht undankbar zu zeigen...
Er nahm eine weitere Nuss. Die Eintauchprozedur wiederholte sich. Genüsslich kaute er und wandte seine Gedanken dem Tagesgeschäft zu. Ein junger Bursche, der sich Vitus nannte, sollte mit Geistern und
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