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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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aufmerksam machte, dass ihr Gesicht nicht mehr perfekt sei und er es verunstaltet habe, schien er völlig überrascht. Routinefragen lösten Schimpftiraden und Wutanfälle aus. Er schrieb hochtrabende Verse, in denen er sich mit Spartakus und Toussaint-Louverture, dem Befreier Haitis, verglich. Und er freute sich, seinen Namen in den Zeitungen zu finden.
    Die Ärzte waren allerdings der Meinung, dass sein Verhalten zu zweckmäßig und systematisch sei. Gewiss, Cavène war eigenartig und impulsiv, aber er übertrieb auch diese neuen Symptome. Daher glaubten sie, dass er »die Sprache und das Verhalten eines Menschen, der halluziniert und an Verfolgungswahn leidet«, übernehme. Ein ehemaliger Zellengenosse berichtete, dass er darüber gesprochen habe, dass er seine ehemalige Geliebte überfallen und dann »dank vorgetäuschter Geisteskrankheit einer Strafe entgehen« wolle.
    Das war selbst für die Experten ein neues Phänomen: Ein nur leicht Geisteskranker simulierte extreme Symptome, um ungestraft davonzukommen. »Ein Mann mit solchen Verhaltensstörungen«, schrieben sie, »gehört unter strengster Aufsicht in eine Nervenheilanstalt.«
    Cavène wurde in die Nervenheilanstalt Bicêtre in Paris geschickt und einige Monate später wieder entlassen. Erneut bedrohte er daraufhin seine Exfreundin und deren Mann. Als er die beiden in einem Pariser Park verfolgte, schoss der Ehemann mehrere Male mit einem Revolver auf ihn. Nach einem Krankenhausaufenthalt wurde Cavène in der Anstalt Sainte-Anne in Paris untergebracht und dann in eine andere Anstalt auf dem Land verlegt. Nachdem er von dort fliehen konnte, kehrte er nach Paris zurück, um sich zu rächen, doch die Polizei vereitelte diesen Plan. Als Garnier seinen neuesten Bericht schrieb, befand sie Cavène gerade in Sainte-Anne, und niemand wusste, wie lange er dort bleiben würde.
    Wenn schon ein Mann wie Cavène fliehen und Menschen verletzten konnte, so stand zu befürchten, dass Vacher ein Blutbad anrichten würde. Zwischen dem Verhalten der Täter, die den Berichten zufolge eine Geisteskrankheit vorgetäuscht hatten, und Vachers Gehabe gab es auffallende Ähnlichkeiten: Hochmut, Größenwahn, Publicitysucht, Hungerstreiks, sporadische Taubstummheit und simulierte Selbstmordversuche. Lacassagne und seine Kollegen verdächtigten daher Vacher von Anfang an, Unzurechnungsfähigkeit nur vorzutäuschen. »Der erste Eindruck, den man gewinnt, wenn man Vacher mit seiner Mütze aus weißem Hasenfell – immerhin der Farbe der Unschuld – betrachtet, lautet: Das Verhalten dieses Mannes ist aufgesetzt«, schrieb Lacassagne. »Dies ist der erste Eindruck, den die meisten naiven Beobachter und die meisten misstrauischen Spezialisten gleichermaßen teilen.« Lacassagne hatte offenbar schon früh eine Abneigung gegen Vacher entwickelt. »Wir haben selten einen hochmütigeren und gleichzeitig argwöhnischeren Angeklagten gesehen, kaum einen anderen, der so vorsichtig mit seinen Worten umgeht und gleichzeitig derart lächerlich handelt. Er befleißigte sich einer unangemessenen Vertrautheit und eines arroganten Tons gegenüber jeder Autorität.«
    Später, als Lacassagne auf die Symptome einging, die er bei Vacher festgestellt hatte, hätte er beinahe Gross’ Beschreibung des typischen Simulanten zitieren können:
    Von Zeit zu Zeit vergisst Vacher seine amateurhafte Dramatik und die Rolle, die er spielt. Dann spricht er ziemlich vernünftig und gibt schlaue Antworten, oder er pariert Argumente, die sich gegen ihn richten, mit einem durchtriebenen Lächeln und weicht Suggestivfragen aus. Wenn er bemerkt, dass er von dem Gehabe abweicht, das er eigentlich an den Tag legen will, schweigt er oft bewusst oder macht vereinzelte, absichtlich unvernünftige Bemerkungen, hinter denen er sich versteckt.
    Auffallend fand Lacassagne, dass Vacher im Gegensatz zu anderen Gefangenen, deren Geschichten sich im Laufe des näheren Kennenlernens entwickelten, an einer unveränderlichen Vorgabe festhielt. Er weigerte sich, Fragen zu seinen Verbrechen zu beantworten, und verwies jedes Mal auf seinen Brief mit dem ersten Geständnis. »Er kommt immer wieder auf sein Hauptthema zurück: Er wurde von einem tollwütigen Hund gebissen und litt an einer Blutvergiftung«, berichtete Lacassagne. Vacher wiederholte diese Geschichte in jedem Brief und in jedem Gespräch, aber auch in den Memoiren, die er zum Schluss schrieb. Drängte man ihn, präzisere Angaben zu machen, reagierte er gereizt und stieß

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