Der Wandermoerder
den Titel »Der Fall Joseph Vacher: seine Selbstverteidigung«. Doch wenn Lacassagne gehofft hatte, daraus Einsichten zu gewinnen, oder wenn er von Vacher Reue oder Enthüllungen erwartet hatte, dann wurde er schnell enttäuscht. Vachers erster Brief an seine Ärzte war eine ermüdende Wiederholung bekannter Tatsachen und hochtrabender Behauptungen. »Sie sagen, Neugier ende, wo die Sorge um die Sicherheit des Volkes beginne«, schrieb er und listete all die Unglücksfälle auf, deren Opfer er geworden war – das alles in einem einzigen Bandwurmsatz. Er sagte, dass er bereit sei, neue Einzelheiten seiner Wanderungen zu offenbaren, wenn er sie zuerst an die Presse geben dürfe. Doch Lacassagne, dem die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vor einem Prozess ein Gräuel war, lehnte ab.
Vacher schrieb den Ärzten immer wieder, um sie auf seine Geisteskrankheit hinzuweisen. Manche Briefe begannen mit dem inzwischen bereits bekannten Titel »Gott – Rechte – Pflichten« in Blockbuchstaben. Andere trugen die Absenderanschrift »Lyon – Jerusalem«, ein Indiz für seine religiöse Besessenheit. Aus der Stadt Belley machte er »Bethlehem«.
»Woher kommt meine Krankheit?«, schrieb er an Lacassagne, Pierret und Rebatel und kam erneut auf »den Biss eines tollwütigen Hundes« zurück. Dann zählte er bestimmte »Ergänzungen« auf, die seinen Zustand noch verschlimmert hätten:
Die Bitterkeit einer schmerzhaften Operation an meinen Geschlechtsteilen im Krankenhaus von Lyon.
Die Kugeln in meinem Kopf und die Gebrechen als Folge des unglücklichen Ereignisses in Baume-les-Dames [wo er auf Louise und sich geschossen hatte].
Schlechte Erinnerungen an die Anstalt in Dole.
Manchmal schmeichelte er auch den Ärzten, so wie er es in der Heilanstalt Saint-Robert getan hatte. Oder er verwies darauf, welch »schwere Aufgabe« sie bei der Prüfung seines Geisteszustandes zu bewältigen hätten. Bisweilen gab er quasireligiöse Erklärungen über seine Reinheit ab: »Man ist wahrhaft stark, wenn man sich unschuldig fühlt und gläubig ist.« Gelegentlich versuchte er, seine Gutachter einzuschüchtern, zum Beispiel als er Dr. Pierrets Namen auf ein Stück Papier schrieb und darunter ein Messer zeichnete – »um dafür zu sorgen, dass er mich nicht hintergeht«.
Schon bald nach seiner Einlieferung in das Gefängnis behauptete er – wie gegenüber Fourquet –, dass er an zwanghaften Wutanfällen leide. Dies sei ein Beweis für seine Geisteskrankheit. Ende Februar entwickelte er daher die Theorie von einer zeitweiligen Unzurechnungsfähigkeit. Er räumte den »traurigen Zustand, in dem ich mich während meiner Wanderungen befand«, ein und gestand, dass sich dieser nunmehr gebessert habe.
Beachten Sie bitte, dass mein Leiden derzeit nicht so ausgeprägt ist, dass ich nicht mehr so abweisend zu den Menschen bin … Die Infektion der Kugeln in meinem Kopf, die mich bei jedem Schritt dem Tod näher zu bringen schien, ist ebenso abgeklungen wie die Schwere und das Pochen, das ich immer in meinem Kopf spürte … Ich verspüre nicht mehr den Drang, im Freien zu schlafen, um vor dem Gelächter böswilliger Menschen zu fliehen.
Gezeichnet: Jh Vacher
PS: Wenn ich es unter diesen Umständen nicht verdiene, für schuldunfähig erklärt zu werden, wer dann?
Lacassagne beeindruckte das alles nicht. In einer Aktennotiz schrieb er: »Wirklich Geisteskranke verhalten sich nicht so.«
Achtzehn
Der Wendepunkt
Wie die »wirklich Geisteskranken« sich benahmen, wurde von den Kriminologen um die Jahrhundertwende heiß diskutiert, da viele Täter Geisteskrankheit nur vortäuschten. Als immer mehr Nervenheilanstalten gebaut wurden und immer mehr Ärzte vor Gericht als Gutachter auftraten, verbreitete sich auch in der Unterwelt die Nachricht von der Möglichkeit, in eine Anstalt eingewiesen zu werden und dort ein ziemlich angenehmes Leben zu führen. Im Jahr 1888 schrieb Dr. Paul Garnier, der medizinische Direktor der Pariser Polizei, dass ihm in den vergangenen zwei Jahren aufgefallen sei, dass Kriminelle diesen Trick »ungewöhnlich oft« anwandten. Er führte dies auf das Strafgesetz von 1885 zurück, das Wiederholungstäter auf die Teufelsinsel verbannte. Verbrecher wollten wohl lieber einige Zeit in einer Nervenheilanstalt verbringen, als ein Leben lang in dieser Hölle zu stecken.
Garnier war aber nicht der Einzige, der das Problem erkannte, und Frankreich war auch nicht das einzige Land, in dem es sich stellte. Anfang der 1890er-Jahre
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