Der Wandermoerder
Mitglied der Studiengruppe, meinte, dass Vacher »geradezu besessen« davon sei, seine Unzurechnungsfähigkeit zu beweisen. »Er sagte immer wieder Sätze wie ›Der Beweis dafür, dass ich nicht zurechnungsfähig bin, ist …‹ Wer wirklich geisteskrank ist, sagt so etwas nicht. Vacher ist ein Heuchler, der genau weiß, was er getan hat.«
Der letzte Zeuge des Vormittags war Dr. Lannois, der mithilfe einer Röntgenaufnahme herausgefunden hatte, dass das Geschoss in Vachers Gehörgang nicht auf Nerven drückte und daher keine zerebralen Probleme oder eine Geisteskrankheit auslösen konnte.
Dann legte das Gericht eine Mittagspause ein. Die Wärter wollten Vacher gerade in seine Zelle zurückbringen, als eine Frau sich aus der Menge löste, sich auf ihn stürzte und ihn schluchzend umarmte. Es war seine Schwester Olympe. »O mein armer Bruder!«, rief sie. »Dr. Dufour ist schuld an dem Unglück unserer Familie, weil er dich freigelassen hat.« Die Wärter lösten sie von Vacher und brachten ihn fort.
Nun rannten die Journalisten los, um ihre Berichte abzuschicken. Die meisten waren sich darüber einig, dass jede Hoffnung, die Vacher gehabt haben mochte, durch die Aussagen der Ärzte zerstört worden war. »Die eben beendete Sitzung war bei Weitem die wichtigste des Prozesses«, schrieb Le Lyon Républicain . »Sie zerschmetterte Vachers Verteidigungsstrategie vollständig. Er hat vorgetäuscht, für seine Taten nicht verantwortlich zu sein, und behauptet, nicht kriminell, sondern krank zu sein. Nach den Ausführungen der Experten ist das nicht mehr aufrechtzuerhalten.«
Dennoch blieb Vacher noch ein schwacher Hoffnungsschimmer. Zwei weitere Ärzte sollten am Nachmittag aussagen, die an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifelten. Als die Verhandlung fortgesetzt wurde, rief der Gerichtsdiener Dr. Bozonet in den Zeugenstand. Dieser hatte Vacher im Gefängnis in Belley untersucht und Dr. Madeuf eingelassen, der aus Paris gekommen war, um sich den Gefangenen anzusehen. Vom Richter befragt, erklärte Bozonet nun, dass seine Beobachtungen zu der Schlussfolgerung geführt hätten, dass Vacher nur »eingeschränkt schuldfähig« sei.
Der Präsident war Bozonet gegenüber weit weniger ehrerbietig als gegenüber Lacassagne. Als er ihn fragte, wie viel Zeit er mit dem Gefangenen verbracht habe, antwortete Bozonet: »Zehn Minuten.«
»Ein einziger Besuch von zehn Minuten hat gereicht?«
»Vollkommen.«
»Ich bewundere die Kompetenz und das schnelle Urteil gewisser Leute aufrichtig.« Aus dem Publikum war Gelächter zu hören.
Charbonnier warf daraufhin ein, dass Bozonet seine Diagnose zwar schnell erstellt habe, diese aber mit der des Direktors aus der Anstalt in Dole übereinstimme. De Coston schien das nicht weiter zu interessieren, er brachte den Arzt vielmehr mit der Frage in Bedrängnis, wie es Madeuf gelungen sei, das Gefängnis ohne offizielle Erlaubnis zu betreten. Nach einigem Hin und Her erhob sich Charbonnier und protestierte. Spielte das alles wirklich eine Rolle? Fourquet habe Reportern und Fotografen freien Zugang zum Gefängnis gestattet – war es unter diesen Umständen wirklich relevant, ob nun gerade ein Arzt es ohne Einladung betreten hatte?
Der Präsident unterbrach ihn. »Das ist eine Frage an die Behörden. Rufen Sie Dr. Madeuf«, befahl er dann dem Gerichtsdiener.
Als Madeuf vereidigt war, befragte de Coston ihn wegen seines unerlaubten Besuchs im Gefängnis. Madeuf behauptete, dass Fourquet ihm gesagt habe, dass er nichts gegen seinen Besuch einzuwenden habe, sofern der Gefängnisarzt einverstanden sei. Dies war das Gegenteil dessen, was Dr. Bozonet ausgesagt hatte.
»Sie haben also den Gefängnisarzt angelogen«, stellte de Coston fest. »Und jetzt lügen Sie wieder.« Dabei hielt er eine von Fourquet unterschriebene Erklärung hoch, in der es hieß, dass dieser Madeuf im Gefängnis überrascht und sofort gegen seine unautorisierte Anwesenheit protestiert habe. »Was haben Sie dazu zu sagen?«
Madeuf erwiderte, dass dies alles unerheblich sei angesichts der Früchte, die sein Besuch getragen habe. Immerhin habe er die Kugel in Vachers Ohr entdeckt.
»Das stimmt nicht!«, erwiderte der Präsident. Vacher habe bereits seit seiner Einlieferung in Dole über das Geschoss geklagt. Und die Ärzte hätten empfohlen, es zu entfernen, doch Vacher habe das abgelehnt.
Madeuf forderte nun, dass Wissenschaftler unbedingt Zugang zu Kriminellen wie Vacher haben müssten, auch unautorisiert. Als
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