Der Wandermoerder
Madame Druaux schien benommen zu sein und hatte ein gerötetes Gesicht, so als hätte sie getrunken. Zwei ortsansässige Ärzte untersuchten die Leichen, fanden keine äußerlichen Wunden oder andere Spuren, entdeckten aber rosa Flecken auf der Haut, etwas blutigen Schaum an den Lippen und eine rötliche Färbung des Urins sowie blutige Verletzungen des Darmes. Das Blut sah ungewöhnlich rot aus. Außerdem fielen den Ärzten winzige Teilchen einer lokalen Käferart im Erbrochenen und im Stuhl der Toten auf. Das war für sie der Hinweis, den sie brauchten. Sie hatten nämlich gehört, dass man aus Käfern ein Gift namens »Spanische Fliege« herstellen konnte. Dieses Gift hatten sie zwar noch nie gesehen oder aus Mägen oder Geweben von Opfern isoliert. Doch angesichts der Wunden im Verdauungskanal, der Fremdkörper im Stuhl und der Tatsache, dass Pauline ihren Mann im Bett mit einer anderen Frau ertappt hatte, war für sie klar, dass es sich um Tod durch Vergiftung handelte. Nach einer kurzen Verhandlung wurde Pauline daraufhin zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt.
Damit war der Fall zunächst abgeschlossen, doch innerhalb eines Jahres war ein anderes Paar in die Wohnung gezogen und dort gestorben. Einige Zeit später zog wieder ein junges Paar ein und wurde schwer krank – mit Symptomen wie Kopfschmerzen und Erbrechen. Die jungen Leute überlebten, aber ihre Katze wurde tot im Keller aufgefunden.
Sobald Druaux’ Anwalt von diesen Ereignissen hörte, beantragte er ein Wiederaufnahmeverfahren. Schließlich gab das Gericht seinem Drängen nach und beauftragte drei medizinische Experten, unter ihnen Paul Brouardel, den Fall zu prüfen. Brouardel und seine Kollegen stellten fest, dass sich neben dem Haus eine Kalkbrennerei befand, deren Schornsteinrauch bei bestimmten Wetterverhältnissen in die Wohnung drang. Nachdem er den Autopsiebericht studiert hatte, erkannte Brouardel, dass die meisten Befunde auf Kohlenmonoxidvergiftung hinwiesen, die damals ziemlich häufig vorkam, weil die Belüftung oft unzureichend war. Das farblose und geruchlose Gas, das bei Verbrennungen entsteht, verbindet sich schneller als Sauerstoff mit dem Hämoglobin des Blutes, und das Opfer erstickt, weil das Kohlenmonoxid den Sauerstoff verdrängt. Hämoglobin, das sich mit Kohlenmonoxid verbindet anstatt mit Sauerstoff, färbt sich hellrot. Deshalb war das Blut der beiden Toten rubinrot gewesen, und darum hatten sie rosa Flecken auf der Haut gehabt. In den inneren Organen staut sich das Blut. Das Gas entzieht dem Gehirn den Sauerstoff, sodass dem Opfer schwindelig wird, als wäre es betrunken.
Was Brouardel verwunderte, war, dass seine Kollegen »keine Minute lang« an die richtige Diagnose gedacht hatten, obwohl sie die Symptome einer Kohlenmonoxidvergiftung klar und deutlich beschrieben hatten. »Am erstaunlichsten ist, dass [Madame Druaux] zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt wurde, obwohl die Experten nicht sagen konnten, welches Gift sie benutzt hatte.« Angesichts der neuen forensischen Analyse wurde Druaux nach neun Jahren im Gefängnis freigesprochen und erhielt eine Entschädigung von 40.000 Francs. Nach ihrer Freilassung wurden zahlreiche Artikel veröffentlicht, von denen einige empfahlen, ein medizinisches Überprüfungsgremium einzurichten. Aber der Aufruhr legte sich bald, und es geschah nichts.
In einem anderen Fall wurde eine Frau namens Adèle Bernard wegen Abtreibung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Drei Monate später gebar sie ein Kind, und das Gericht setzte sie auf freien Fuß.
Solchen Formen von Inkompetenz begegnete Lacassagne häufig. Seiner Meinung nach war nicht die Wissenschaft daran schuld – der Fall Gouffé hatte ja bewiesen, dass sie erstaunlich weit entwickelt war –, sondern die geringe Verbreitung dieser Wissenschaft. Außerhalb der großen Bildungszentren war die Gerichtsmedizin unterentwickelt und wurde von unfähigen Leuten ausgeübt. Und dieses Problem beschränkte sich nicht nur auf Frankreich. Die englische Forensik lag Jahre hinter der kontinentaleuropäischen zurück, zum Teil deshalb, weil die englischen Leichenbeschauer, die ursprünglich die finanziellen Interessen der Krone schützen sollten, nur eine rudimentäre medizinische Ausbildung genossen. In den USA gab es weder gesetzliche Regelungen noch eine Ausbildung für Leichenbeschauer, die ihre Stellung oft den lokalen Politikern verdankten. Zum Dank dafür produzierte ein Leichenbeschauer Ergebnisse, die mit denen der
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