Der Wandermoerder
Polizei übereinstimmten, schickte die entsprechenden Angehörigen zu Bestattern, zu denen er gute Beziehungen hatte, und drückte ein Auge zu, wenn Privilegierte Verbrechen begingen. 3
Lacassagne ärgerte sich über die vielen »skandalös unzulänglichen« Autopsieberichte – ein paar Stunden oder gar Tage nach der Sektion hingekritzelte Zeilen. Obwohl Ärzte eine Autopsie vornehmen mussten, wenn in ihrem Bezirk eine Leiche gefunden wurde, entzogen sich viele dieser Pflicht. Die Arbeit wurde schließlich schlecht bezahlt, war abstoßend und bisweilen gefährlich. Ein Arzt, der sich in den Finger stach, riskierte eine tödliche Blutvergiftung. Diejenigen, die bereit waren, eine Autopsie vorzunehmen, waren meist Neulinge oder Landärzte mit begrenzter Erfahrung, was Verbrechen anbelangte. »Das sind Ärzte, die während ihres Studiums nie einen erhängten oder erwürgten Menschen oder ein missbrauchtes Kind gesehen haben«, schrieb Lacassagne. »In manchen Fällen ist der medizinische Experte lediglich ein Lehrling oder Anfänger.« Er hielt so wenig von Landärzten, dass er den Justizbehören vorschlug, sie zu übergehen und eine Flotte von Pferdekutschen mit den eben erfundenen Kühlgeräten auszustatten, um Leichen sofort in große Krankenhäuser und Universitäten zu bringen.
Es war allerdings einfach, den Landarzt zu kritisieren, wenn man nie in seinen Schuhen gesteckt hatte. Dr. Paul Hervé, einer dieser Landärzte, verfasste eine leidenschaftliche Streitschrift, in der er sich und seine Kollegen verteidigte und erklärte, er müsse in einer normalen Woche ein Kind zur Welt bringen, einen Fuß nähen, den eine Heugabel verletzt habe, und sogar die Tiere eines Bauern wegen einer Infektion behandeln. Dann würde mitten in der Nacht noch der Dorfpolizist an seine Tür klopfen und ihn zu einer Autopsie oder zu einer verstümmelten Leiche rufen. (Insofern bestätigte Hervé die Klage Dr. Coutagnes über die Probleme mit Autopsien auf dem Land.) Da keine Kühlung möglich war, welche die Verwesung verlangsamt hätte, musste er sich dann sofort um den Fall kümmern. An einem dunklen, regnerischen Tag Ende Dezember zum Beispiel waren er und ein Polizist gezwungen gewesen, ein paar Stunden vor Einbruch der Dunkelheit einen Tisch aus einer Tür und zwei Sägeböcken zu bauen und diesen an den hellsten Platz zu stellen, den es gab – mitten auf einem Feld. Der Polizist hatte in der Dämmerung Laternen angezündet, aber ihr Licht hatte Farben und Formen verzerrt. Hervé hatte sich bei der Autopsie beeilt und sorgfältig darauf geachtet, sich nicht zu verletzen. »Je schneller ich arbeitete, desto stärker waren meine Hände und Unterarme mit Blut und unnennbaren Flüssigkeiten beschmiert«, schrieb er. Von Zeit zu Zeit hatte er sich die Hände in einem Eimer gewaschen, seine Beobachtungen auf ein Blatt Papier gekritzelt und dann wieder zum Skalpell gegriffen. »Bei meinem letzten Schnitt konnte ich kaum etwas sehen.«
Da er gefürchtet hatte, dass seine Eile womöglich zu falschen Urteilen geführt habe, hatte er mehrere Organe in Gaze gewickelt, sie in seine Aktenmappe gestopft und das »makabre Päckchen« mit nach Hause genommen. Am nächsten Tag hatte er es dann in seiner Praxis untersucht. Seiner Meinung nach hatte er allen Grund, sich zu beklagen:
O ihr wissensmächtigen Meister, die ihr in den großen Städten operiert … ihr ignoriert diese Probleme!
Euch stehen vorzüglich ausgestattete Labors zur Verfügung, eure Leichenhallen sind auf dem neuesten Stand. Vielleicht habt ihr sogar Kühlgeräte, die pathologische Proben konservieren, die ihr untersuchen und noch einmal prüfen könnt. Doch wir, die armen Enterbten, sollen eine Leiche ein einziges Mal in Augenschein nehmen und dann schnell unsere Schlüsse ziehen. Was für eine Verantwortung!
Ein Arzt ist nicht Gott, sondern ein fehlbarer Mensch. Und es kommt auch in der Wissenschaft vor, dass jemand trotz seiner Aufmerksamkeit und seiner guten Absichten Fehler macht.
Als Lacassagne 1881 seine Arbeit aufnahm, war die Ausbildung in Gerichtsmedizin rein theoretisch und stützte sich auf Vorlesungen – keine gute Voraussetzung für einen Professor, der Wert auf zwischenmenschliche Beziehungen legte. Er fand, dass seine Studenten unbedingt praktische Erfahrung brauchten. Daher fügte er den traditionellen Vorlesungen über Anatomie, Recht und Wundphysiologie eine starke praktische Komponente hinzu, um seine Studenten mit allen Aspekten der Gerichtsmedizin
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