Der Wandermoerder
Frankreichs darstellten, sowie Schaubilder, die kriminelle Trends seit den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts zeigten und zugleich ein Lebensziel Lacassagnes hervorhoben: Er wollte nicht nur Kriminalfälle lösen, sondern auch die Muster und Ursachen des Verbrechens erforschen. Er war ein berühmter Gegner des großen Kriminologen Cesare Lombroso, der behauptete, manche Menschen seien »von Geburt an Kriminelle«. Lacassagnes Schaubilder und Studien belegen, dass er stärkere Kräfte hinter der Kriminalität vermutete, zum Beispiel Armut, Familienprobleme, die Jahreszeit und Wirtschaftszyklen. Der Streit zwischen Lacassagnes »Lyoner Schule« der Kriminologie und Lombrosos »italienischer Schule« wurde zum Dauerthema im Leben beider Männer und in ihrem Fachgebiet.
Lacassagne und seine Studenten beschränkten sich jedoch nicht auf die Arbeitsräume des Instituts, sondern nutzten auch die enormen intellektuellen und materiellen Ressourcen der medizinischen Fakultät im Krankenhaus Hôtel Dieu. Wie der Fall Gouffé zeigt, glaubte Lacassagne fest an den Wert der Zusammenarbeit. Darum holte er oft den Rat von Chirurgen, Anatomen, Toxikologen, Entomologen und anderen Experten ein. Das Krankenhaus überließ ihm auch häufig Leichen. Das Wissen über die Ursachen von Wunden – vor allem von jenen, die von modernen Revolvern, Gewehren, Bomben und Bajonetten verursacht wurden – war begrenzt. Wenn eine rätselhafte Wunde entdeckt wurde, versuchten Lacassagne und seine Kollegen bisweilen, sie an frischen Leichen aus dem Krankenhaus zu reproduzieren, um dann auf die Waffe und die Umstände des Todes rückzuschließen.
All diese Ressourcen ermöglichten es Lacassagne, den Einsatzbereich der Gerichtsmedizin über gewöhnliche Ermittlungen hinaus zu erweitern. Er war Mitbegründer der »medizinischen Archäologie« und nutzte die Instrumente der modernen Forensik, um das Leben und den Tod historischer Persönlichkeiten zu erforschen. In einer Studie spielte er mit Kollegen die Ermordung des französischen Revolutionärs Jean-Paul Marat im Jahr 1793 nach. Marat war von Charlotte Corday in der Badewanne erstochen worden. Es hatte immer Diskussionen darüber gegeben, ob die Wunde tödlich gewesen war. Um Marats letzte Sekunden zu rekonstruieren, besorgten sich Lacassagne und seine Kollegen eine Leiche mit der gleichen Größe und Statur und legten sie in der gleichen Position wie Marat in eine Badewanne. Dann stachen sie mehrere Male mit einem Küchenmesser in die Leiche – in dem Winkel, den der Arzt damals gemessen hatte. Als sie die Leiche sezierten, stellten sie fest, dass Corday, die in einem Kloster erzogen worden und nie gewalttätig gewesen war, erstaunlich präzise zugestochen hatte (Lacassagne und seine Kollegen benötigten mehrere Versuche, um den Stich genau gleich auszuführen). Die Schneide war zwischen Marats erster und zweiter Rippe hindurchgeglitten – die nur 0,13 Zentimeter voneinander entfernt sind –, hatte die Aorta durchtrennt und war dann unter der Lungenarterie bis in den linken Vorhof des Herzens vorgestoßen. Hätte sie das Messer in irgendeinem anderen Winkel gehalten oder gedreht, wäre es an den Rippen oder am Brustbein abgeprallt.
Im Institut herrschte eine fieberhafte Aufregung – nicht wegen der unheimlichen Beschäftigung mit Körperteilen, sondern weil alle davon überzeugt waren, in ihrer Disziplin wichtige und kreative Arbeit zu leisten. »Die Leute im gerichtsmedizinischen Institut in Lyon sind in der Tat eine aktive, hart arbeitende Gruppe voller Selbstvertrauen und Disziplin«, geprägt vom »Willen und Geist des Meisters«, schrieb ein Wissenschaftler aus Brüssel, der das Institut besucht hatte. Dieser Forschergeist erstreckte sich auch auf Aspekte jenseits des Verbrechens und des Todes. Eines Tages im Jahr 1892 hörte Lacassagne, dass der berühmte Mathematiker Jacques Inaudi die Stadt besuchen würde. Er lud ihn sofort in das Institut ein, wo das Genie sich mehrere Stunden lang »überaus zuvorkommend« kognitiv testen ließ. Zu ihrer Überraschung stellten Lacassagne und seine Studenten fest, dass Inaudi Gleichungen nicht visuell löste, wie sie erwartet hatten, sondern mithilfe eines »inneren Dialoges«. Ein andermal bat der Bischof der Basilika in Saint-Denis Lacassagne, ein Totenhemd zu untersuchen, das Karl der Große seiner Kirche geschenkt hatte und von dem man glaubte, Jesus habe es am Kreuz getragen. Lacassagne und ein Kollege bestätigten das Alter des Gewandes und
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