Der Wandermoerder
fanden einen Farbstoff, der aus dem See Genezareth stammen konnte. Aber mehr fanden sie über die Herkunft des Tuches nicht heraus. Obwohl Lacassagne nicht ausschließen konnte, dass es authentisch war, erinnerte er den Bischof daran, dass viele solche Totenhemden im Umlauf waren und Händler aus dem Nahen Osten seit vielen Jahrhunderten gute Geschäfte mit arglosen Gläubigen gemacht hätten.
Der dritte Teil von Lacassagnes Mission neben Forschung und Lehre war die Entwicklung zuverlässiger und standardisierter Methoden, die jeder Arzt anwenden konnte. Wann immer es möglich war, brachte er Beweismittel vom Tatort ins Labor mit, beauftragte seine Studenten, den Fall zu untersuchen, und fasste die Ergebnisse so in Tabellen zusammen, dass sie das medizinische Fachwissen erweiterten. Alles, was untersucht werden musste – zum Beispiel chemische Veränderungen in der Leber zur Zeit des Todes oder körperliche Anzeichen für Kindesmissbrauch –, konnte zum Thema einer Doktorarbeit werden. Insgesamt betreute er 225 Dissertationen. Deshalb beauftragte er auch Étienne Rollet, die Korrelation zwischen der Knochenlänge und der Körpergröße zu untersuchen. Darüber war zwar bereits einiges geschrieben worden, aber ein zuverlässiges forensisches Instrument gab es noch nicht.
Lacassagne veröffentlichte die Studien seiner Studenten in dem Sammelband Arbeiten des Labors für Gerichtsmedizin in Lyon . Wenn eine Doktorarbeit praktischen Nutzen versprach, fertigten er und seine Kollegen ein Schaubild an, das den in Vorlesungen verwendeten Diagrammen glich, und veröffentlichten es in den Archives de l’anthropologie criminelle . 1892 nahm er diese Schaubilder und Beobachtungen in sein Buch Vade-mecum du médecin-expert (Handbuch für den medizinischen Experten) auf. Es passte in eine Hosentasche (das lateinische vade mecum bedeutet »Geh mit mir«) und enthielt mehr als 250 Seiten voller Schaubilder, Verfahren und Hintergrundinformationen über fast jedes Verbrechen, mit dem ein Arzt es zu tun bekommen konnte. Das Buch wurde ein Bestseller in der forensischen Welt, weil es sowohl umfassend als auch gut verständlich war. Wichtiger noch, es trug zur Standardisierung der Praxis bei. Selbst ein Arzt in einem entlegenen Dorf, der es eilig hatte, konnte nun eine Autopsie vornehmen, die zu einem gerechten Urteil führte, sofern er die im Handbuch beschriebenen Schritte genau befolgte. Wenn man bedenkt, wie fachkundig Dr. Brottet die Leiche von Eugénie Delhomme sezierte, ist es wahrscheinlich, dass er Lacassagnes Diagramme benutzte.
Ein typisches und interessantes Beispiel für dieses Verfahren war Lacassagnes Entdeckung, dass Geschosse Rillen aufwiesen, die man einer bestimmten Waffe zuordnen konnte. Er war 1888 an einen Tatort gerufen worden, wo ein 78 Jahre alter Mann namens Claude Moiroud erschossen worden war. Lacassagne nahm die Autopsie an Ort und Stelle vor und fand drei Kugeln in der Leiche. Eine war im weichen Gewebe des Kehlkopfes, eine zweite am Schulterknochen stecken geblieben. Die dritte hatte die Bauchhöhle und eine Niere durchquert und steckte in der Nähe der Wirbelsäule. Als er die Kugeln untersuchte, machte er eine überraschende Entdeckung: Obwohl jede Kugel einen anderen Körperteil durchquert hatte und eine gegen einen Knochen geprallt war, trugen alle identische Rillen. »Es war erstaunlich«, schrieb er. »Die Kugel im Kehlkopf, die nichts Hartes getroffen hatte, trug entlang ihrer Achse die gleichen Rillen wie die Kugel, die in der Schulter steckte … Es schien sich um Markierungen oder Identitätsmerkmale des Revolvers zu handeln.«
Ein Zeuge hatte in dem Fall ausgesagt, dass die Freundin eines jungen Mannes namens Echallier zu Hause eine Waffe versteckt habe. Die Polizei beschlagnahmte die Waffe und brachte sie zu Lacassagne. Dieser setzte sich mit dem renommierten Waffenhersteller Maison Verney-Carron in Verbindung, der einen Experten namens Charles Jeandet an den Tatort schickte. Er erklärte, dass Waffenschmiede spiralige Rillen in die Läufe schnitten, um den Kugeln einen Drall zu geben und dadurch die Genauigkeit zu verbessern. Diese Rillen hinterließen charakteristische Merkmale an den Projektilen, was zwar der Waffenindustrie, nicht aber den Ärzten bekannt sei.
Lacassagne kehrte mit Jeandet, der Waffe und einigen Patronen nach Lyon zurück. In seinem Labor zog er der Leiche eines achtzigjährigen Mannes, die das Krankenhaus ihm geschickt hatte, die gleichen Kleider an, die das Opfer
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