Der Wandermoerder
hat.
Früher hatten die Dorfbewohner diese Vagabunden willkommen geheißen. Wer Handwerker war, wurde wegen seiner Fertigkeiten gebraucht, und die anderen fanden Arbeit bei den Bauern. Aber die Industrialisierung hatte den Bedarf an manueller Arbeit verringert, und die Wirtschaftsflaute traf die Bauern sehr hart. Jene, die es sich leisten konnten, Wanderarbeiter zu beschäftigen, schickten sie fort, sobald die Arbeit getan war, weil sie keine Lust hatten, Bettler zu versorgen.
»Früher waren die Leute nett zu uns, aber heute ist der Empfang eisig«, erzählte ein Mann, der wegen Landstreicherei verhaftet worden war, Fourquet.
Aber wie sehr kann man jemandem vertrauen, der so arm und abgerissen aussieht … der mit Schmutz bedeckt und nass vom Regen ist, nicht viel isst und weder anziehend ist noch gute Laune hat? Früher mussten die Bauern selbst so arbeiten, und da sie sich daran erinnerten, hießen sie uns als ihresgleichen willkommen. Jetzt sind die Bauern, die uns Arbeit geben, selbst unglücklich. Die Klöster haben uns einst untergebracht, aber das tun sie heute nicht mehr. Wir stoßen überall auf Misstrauen, aber nicht mehr auf Mitleid.
Und die Vagabunden konnten sich nicht einmal mit ihren Leidensgenossen zusammenschließen. Denn sie wussten, wie die Leute reagierten, wenn gleich ein Dutzend Arbeitslose ins Dorf einzog. Sie bekamen eher Arbeit, wenn sie allein waren. Also zogen sie als einsame Landstreicher durchs Leben – hungrig, verzweifelt, misstrauisch gegenüber anderen Vagabunden und ein Ärgernis für die Sesshaften.
Vacher fand Arbeit auf einem Bauernhof bei Grenoble. Dann ging er zur Weinernte ins Rhonetal. Eine Weile nannte er sich Carpentier. So hieß ein Vagabund, mit dem er sich angefreundet und dem er die Papiere gestohlen hatte. (Ermittler äußerten den Verdacht, Vacher könne den Mann ermordet haben.) Er wanderte südwärts die Rhone entlang und arbeitete dann kurz in einer Ziegelfabrik. Nirgendwo blieb er lange. Als erprobter Wanderer legte er über 30 Kilometer am Tag zurück und schlief auf dem Feld oder in primitiven steinernen Hütten von Hirten.
Im Herbst 1894 kam er in den Bezirk Var, zwei Tagesmärsche von der heutigen Riviera entfernt. Es war eine geheimnisvolle Gegend mit trockenen, zerklüfteten Bergen, dichten Kiefernwäldern und tiefen Schluchten. Ein Mensch konnte in diesen düsteren Tälern leicht verschwinden. Manchmal tauchte er dann in einem Dorf auf, um in der Kirche eine Kerze anzuzünden, und verschwand wieder.
Am 20. November 1894 machte sich Louise Marcel auf den Rückweg aus einem Nachbardorf, in dem sie nach ihrem entlaufenen Hündchen gefragt hatte. Obwohl sie erst 13 war, galt sie als besonders hübsch und körperlich ungewöhnlich reif. Als sie zum Mittagessen nicht zu Hause war, suchten ihre Eltern nach ihr und stellten schließlich eine Suchmannschaft zusammen.
Zwei Tage später fand man die Leiche des Mädchens in einer alten Scheune. Eine Autopsie enthüllte, dass sie nach ihrem Tod wahrscheinlich anal vergewaltigt worden war. Ein Felsvorsprung in der Nähe war mit Blut beschmiert. Dort musste der Mörder sich die Hände abgewischt haben.
Seit seiner Jugend beherrschten Joseph Vacher zwei entgegengesetzte Neigungen: Einerseits wollte er ein gottgefälliges Leben führen, andererseits aber auch seinen Drang nach sexueller Gewalt befriedigen. Als 15. von 16 Kindern – der Vater hatte zweimal geheiratet – wuchs er in einem Haus mit einem einzigen Raum, einem roten Ziegeldach und dicken Steinmauern auf. Da er ziemlich klug zu sein schien, sorgten seine Eltern dafür, dass er zur Schule gehen konnte.
Er hätte alles in allem eine für die damalige Zeit und Situation ganz normale Kindheit verbracht, wenn es da nicht einige ihn negativ prägende Vorkommnisse gegeben hätte. Als Baby hatte er eine Zwillingsschwester namens Eugénie. Eines Tages legte die Mutter Joseph und Eugénie auf ein Bett und deckte sie mit einem leichten Tuch zu, um sie vor Ungeziefer zu schützen. Dann backte sie Brot im Ofen der Familie, der im Freien stand – riesige, schwere Laibe, die sie an Nachbarn verkaufte, um das Einkommen der Familie aufzubessern. Als das Brot fertig war, trug sie einem der älteren Kinder auf, einen Laib ins Haus zu bringen, aber nicht auf den Fußboden zu legen. Als das Kind die Decke auf dem Bett sah, legte es das Brot zum Abkühlen darauf, ohne die kleinen Geschwister zu bemerken. Als die Mutter hereinkam, war Eugénie bereits tot.
Joseph war
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