Der Wandermoerder
getragen hatte, und feuerte zwei Schüsse auf sie ab, eine in den Schulterknochen und die andere in das weiche Gewebe des Unterleibs. Als er die Kugeln herausholte, bemerkte er, dass beide identische Markierungen trugen, die genau denen entsprachen, die er an den Kugeln im Opfer gefunden hatte. Er untersuchte die Geschosse mit einer Lupe und sah kleinere Rillen innerhalb der Rillen – auch sie waren identisch. »Die Rillen sind so identisch, dass sie vom selben Revolver stammen müssen«, schloss er.
Echallier wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Und Lacassagne wusste, dass er auf ein neues Beweismittel gestoßen war, und beauftragte einen seiner Studenten, dies genauer zu untersuchen. Nach monatelangen Forschungen und Tests veröffentlichte er mit dem Studenten einen Artikel in den Archives de l’anthropologie criminelle zusammen mit einer Tabelle, in der 26 häufig verwendete Projektile aus französischen, amerikanischen und britischen Pistolen samt ihrem Gewicht, ihrer Form und ihrem vorherrschenden Rillenmuster aufgeführt waren. Ausführlichere Tabellen folgten, und bald gehörte es zum Standard der Kriminalistik, die Markierungen an Kugeln zu identifizieren.
Neben all seinen erfolgreichen Studien und dem Aufbau des Instituts verfolgte Lacassagne ein weiteres Ziel: Er wollte die berüchtigte Leichenhalle der Stadt durch eine neue ersetzen. Leichenhallen erfüllten eine wichtige Aufgabe, nicht nur für die öffentliche Hygiene, sondern auch als Ort, an dem unbekannte Leichen ausgestellt und möglicherweise identifiziert werden konnten. In Lyon befand sich die »treibende Leichenhalle« auf einem Kahn in der Rhone, der vor dem Krankenhaus Hôtel Dieu an einem Kai angekettet war. Sie bestand aus einem 20 Quadratmeter großen Holzgebäude mit einem großen »Ausstellungsraum«, in dem die nächsten Angehörigen die Leichen anschauen konnten, einem kleinen Autopsieraum und einem Schlafzimmer für den Wächter. Jedes Jahr wurden die Leichen von Unbekannten und Mittellosen zu Dutzenden eingeliefert, damit sie identifiziert und seziert werden konnten.
Als die Stadtväter im Jahr 1853 die Leichenhalle auf den Fluss setzten, schien das eine gute Idee zu sein, da sie so in der Nähe des größten Krankenhauses und der Rhone lag, der beiden Hauptlieferanten von Leichen (fast 30 Menschen ertranken jedes Jahr in der Rhone und in der Saône, die beide durch Lyon fließen). Ein Platz auf dem Fluss kostete nichts, und zudem trug der Wind auf der Rhone die Gerüche aus der Stadt hinaus. Aber die Realität holte den Stadtrat bald ein. Die Halle war ein feuchtkalter, stinkender Ort, der Besuchern im Sommer den Atem raubte und im Winter so kalt war, dass die Chirurgen Mühe hatten, ihre Skalpelle richtig zu führen. Durchdringender Leichengeruch hing im Gebälk der Halle. Schiffspumpen fochten einen ständigen Kampf gegen eindringendes Wasser. Manchmal rissen die Stürme auf dem Fluss den Leichenkahn los, warfen ihn gegen die Brücke und verstreuten seine Ladung. Aber selbst normale Turbulenzen konnten bereits unangenehm sein. Die Rhone war einer der meistbefahrenen Flüsse Frankreichs, und wenn Dampfschiffe vorbeituckerten, hoben ihre Wellen den Kahn hoch. Manchmal rissen dann die Ketten, und er trieb fort.
Lacassagne drängte den Stadtrat wiederholt, diese unerträglichen Zustände zu beenden. Einmal beklagte er sich, dass der Kahn während einer Demonstration für mehrere Dutzend Studenten so tief in den Fluss gesunken sei, dass Wasser durch die Fußbodenbretter gesickert sei. Die Stadträte ignorierten dennoch seine Forderungen.
Es war ein peinlicher Gegensatz zur Pariser Leichenhalle, mit der Lacassagnes Kollege Brouardel gerne prahlte. Die Leichenhalle der Hauptstadt war vor dem größten Krankenhaus gebaut worden und hatte einen großen Ausstellungsraum mit einem Dutzend schrägen Marmortischen, auf denen die Leichen in einem günstigen Winkel für den Betrachter lagen. Eine Glasscheibe trennte diesen Raum vom Publikum, ähnlich wie die Schaufenster der neuen Kaufhäuser. Die Leichen wurden von modernen Kühlanlagen mit Dampfantrieb gekühlt. Das erwies sich als großer Vorteil für die Arbeit der Polizei, weil die Verwesung verzögert wurde und die Leichen wochenlang erkennbar blieben. Um die Chancen für eine Identifizierung zu vergrößern, war die Halle von Tagesanbruch bis zur Abenddämmerung für das Publikum geöffnet. Die Menschen strömten unabhängig davon, ob sie Angehörige vermissten
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