Der Wandermoerder
oder nicht, herein. Tausende zogen jeden Tag an den Leichen vorbei, um die Neuzugänge zu besichtigen. Arbeiter kamen während ihrer Mittagspause vorbei, und Rentner vertrieben sich die Zeit vor den Fenstern. Die Leichenhalle wurde zu einer derartigen Attraktion, dass der Londoner Reiseveranstalter Thomas Cook sie sogar in seine Tour nach Paris aufnahm.
In Lyon war das vollkommen anders. Dort stießen die Dunkelheit und der Gestank alle ab, die nicht unbedingt in der Leichenhalle sein mussten. Es gab keine Kühlanlage, die Gerüche unterdrückt hätte, und nur eine primitive Pumpe beträufelte die Leichen mit Flusswasser. Das einzig Positive in dem Ganzen war der beliebte alte Wärter Delègue, der trotz des Geruchs dort lebte. Mit seinem weißen Bart, dem Haar, das ihm auf die Brust herabhing, seiner stets zwischen den Zähnen steckenden Pfeife und seinem treuen Hündchen schien er dem Alten Testament entsprungen zu sein. Wenn man ihn nach einer der Leichen an Bord fragte, erklärte er knapp und prägnant, wie lange sie ungefähr im Fluss gelegen und wann die Verwesung begonnen hatte – ein kurzer Blick genügte ihm. »Um diese Fragen zu beantworten, musste man [normalerweise] viele Variablen kennen«, erinnerte sich Edmond Locard, der als Student Lacassagnes in der Leichenhalle gearbeitet hatte. »Aber dieser Patriarch machte nie einen Fehler.«
Im Jahr 1910, nachdem Lacassagne sich fast drei Jahrzehnte lang beschwert hatte, begann die Stadt endlich mit den Bauarbeiten für eine neue Leichenhalle auf trockenem Boden in der Nähe der medizinischen Fakultät. In einer Januarnacht während der Arbeiten riss ein heftiger Sturm den Kahn mit der Leichenhalle aus seiner Verankerung. Die wilde Strömung warf ihn gegen einen Brückenpfeiler, und bald waren die Trümmer der Leichenhalle kilometerweit auf dem Fluss verstreut. Am nächsten Morgen wurde Delègue unverletzt am Ufer gefunden, aber sein Hund und die Leichen waren fortgespült worden. Als der bärbeißige Alte erfuhr, dass sein Hund verschwunden war, weinte er wie ein Kind.
Fünf Der Landstreicher
Stunden nach dem Mord an Eugénie Delhomme wusch Joseph Vacher seine blutbespritzten Kleider in einem Bach, grub sich eine Höhle in einen Heuhaufen auf einem Hügel oberhalb des Tatortes und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen fiel die Behausung dem Grundstückseigentümer auf. Er vermutete, dass ein Landstreicher die Nacht darin verbracht hatte.
Vacher wanderte etwa 65 Kilometer nach Osten bis Grenoble. Nachdem er dort mehrere Tage lang erfolglos versucht hatte, Arbeit zu finden, ging er wieder hinaus aufs Land und bat auf Bauernhöfen um etwas Geld, einen Schlafplatz oder einen Job. Er sah allerdings nicht gerade vertrauenserweckend aus, weil er beim Sprechen fürchterliche Grimassen zog, zudem floss ein übel riechendes Sekret aus seinem Ohr. Wenn Leute misstrauisch oder ängstlich wirkten, zeigte er ihnen seine Regimentspapiere, was sie manchmal beruhigte.
Vacher war für ein Leben auf der Straße ausgerüstet. Er trug braune Velourshosen, einen schwarzen Filzhut und robuste Schuhe. Sein Wandersack war mit Kochgeschirr, Essen und Kleidern gefüllt. Außerdem trug er eine Börse mit Kleingeld bei sich, eine Feile, eine Pistole und gelegentlich ein Messer oder Rasiermesser. Irgendwo besorgte er sich ein Akkordeon, auf dem er bisweilen – schlecht – spielte, während er um milde Gaben bat. Irgendwann schleppte er dann auch noch zwei große, tödliche Holzknüppel mit.
Im Mai oder Juni 1894 stellte Jules Cartier, ein Landbesitzer in der Nähe von Genf, Vacher als Mäher ein. Der Neue war nicht annähernd so freundlich oder gesprächig wie die anderen Wanderarbeiter. Er hielt den Kopf meist gesenkt und schwang die Sense in düsterem Schweigen. Einmal passte er nicht auf und mähte bis in ein Spargelfeld hinein weiter. Zurechtweisungen nahm er mürrisch auf. »Wo haben Sie diesen Trottel denn her?«, fragte einer der Männer den Vorarbeiter. »Ich habe Angst vor ihm.«
Eines Tages zog Vacher sein Bett ab, versteckte die Laken in seinem Sack und beschuldigte einen Kollegen, sie gestohlen zu haben. Die Polizei deckte den Schwindel jedoch schnell auf und befahl ihm, sofort aus der Gegend zu verschwinden. Daraufhin machte er sich auf den Weg zurück nach Frankreich.
Da er auf Wanderschaft ging, gehörte auch er zu der Gruppe von verwahrlosten Menschen, die in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts das ländliche Frankreich überschwemmten. Diese
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