Der Wandermoerder
Drang zum Umherschweifen geboren und verachteten die Werte der Sesshaften. Die meisten seien geisteskrank, behaupteten Dr. Armand Marie und Dr. Raymond Meunier, die führenden Experten für Landstreicherei in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Hysterie, Epilepsie, Alkoholismus, Mystizismus, Demenz und unstillbare Wanderlust seien einige dieser Krankheiten.
In Übereinstimmung mit der damals populären Degenerationstheorie betrachteten viele die Vagabunden als Unfall der Evolution, als Rückfall in ein primitiveres Stadium der menschlichen Entwicklung. Alexandre Bérard, eine Autorität aus Lyon, beschrieb die Landstreicher als »wilde Bestien, die in einer zivilisierten Gesellschaft keinen Platz haben«, als Opfer eines uralten Wandertriebes. Dieser Trieb sei einst nützlich gewesen, versicherte er, weil er »primitive Menschen durch Steppen, Wälder und Wüsten führte, um die Erde zu bevölkern, Nationen zu formen und Reiche zu gründen«. Doch die Zeit für ein solches Verhalten sei vorbei. Da dieser Drang in einer zivilisierten und stabilen Gesellschaft fehl am Platze sei, drücke er sich als Wurzellosigkeit und fehlende Anpassung aus, und die Betroffenen bevölkerten die Seitenstraßen und jagten anständigen Leuten Angst ein.
Da man den Landstreichern primitive Neigungen unterstellte, war es unvermeidlich, dass sie auch als Kriminelle abgestempelt wurden, vor allem weil Arbeitslosigkeit und Sensationsjournalismus sich zur gleichen Zeit entwickelten. Lacassagne, der ansonsten eher zu ausgewogeneren Aussagen neigte, beschrieb Vagabunden als schlichte, impulsive Menschen, die auf zwei primitive Reize reagierten: »Hunger und sexuelles Verlangen«. Dies sei der Grund dafür, dass Diebstahl und Vergewaltigung ganz oben auf der Liste der von Landstreichern begangenen Verbrechen stünden. Er ignorierte mögliche andere Faktoren und behauptete, dass die Zahl schwerer Verbrechen zunehme, wenn die Menge der Vagabunden in einer Region ansteige. Die Furcht war so weit verbreitet, dass Frankreich 1885 ein Gesetz erließ, das für Vagabunden und Gewohnheitsverbrecher lebenslange Freiheitsstrafen vorschrieb. Viele von ihnen wurden in die Strafkolonie auf der Teufelsinsel vor der Küste von Guyana geschickt. Die Polizei nahm Tausende von Bettlern fest und sperrte allein im Jahr 1900 40.000 Menschen wegen Landstreicherei ein. Wer nicht ins Gefängnis oder in die Strafkolonie kam, erhielt Fahrkarten für eine Reise von der Stadt zurück aufs Land.
Am Ostersonntag 1895 verließ Antoinette-Augustine Marchand, eine sechsundzwanzigjährige Obstverkäuferin und Mutter von vier Kindern, gegen Mittag den Bauernmarkt ein paar Kilometer südlich von Lyon, um nach Hause zu gehen. Sie hatte am Morgen Orangen verkauft, und ihre Einnahmen wölbten ihre rechte Tasche. Als sie ihren Handkarren einen Weg nahe der Rhone hinaufschob, bemerkte sie einen Landstreicher, der am Wegrand schlief. Sie hatte schon oft Gerüchte über einen frei herumlaufenden Verrückten gehört und musterte den Schläfer ängstlich, als sie an ihm vorbeiging. Als sie gerade eine Eisenbahnschiene überqueren wollte, packte sie plötzlich jemand von hinten. Sofort warf sie sich gegen eine Steinmauer, um ihre rechte Tasche zu schützen, aber sie merkte schnell, dass der Angreifer andere Absichten hatte.
»Ich spürte, wie er mit dem Knie meine Unterwäsche bis zu meinem Bauch hinaufschob«, berichtete sie später. »Er hatte seine Hose geöffnet, hielt mich mit dem rechten Arm fest und berührte mit der linken Hand meine Geschlechtsteile. Er befahl mir stillzuhalten.«
Sie roch den üblen Ausfluss aus Vachers Ohr und sah jedes Detail seiner Narbe und seines Gesichts. Er umklammerte sie so stark, dass ihr rechter Arm taub wurde. Sie kreischte und strampelte heftig, dann stieß sie ihm die Fingernägel in die Augen, worauf er seinen Griff kurz lockerte. Als er sein Messer zückte, riss sie sich mit einer Drehbewegung los, lief auf die andere Seite der Gleise und begann ihm Steine ins Gesicht zu werfen. So hielt sie ihn in Schach, bis zwei Männer vorbeikamen und Vacher wegrannte. »Ich habe noch acht Stunden lang gezittert«, sagte sie.
»Ich reichte eine Beschwerde [im Rathaus] ein«, fügte sie hinzu, »aber nichts geschah.«
Sechs Identität
In ganz Frankreich gab es wohl keine zwei Männer, die so unterschiedlich waren wie Joseph Vacher und Alexandre Lacassagne. Vacher war wild, entwurzelt und primitiv und wurde von seinen Trieben beherrscht. Lacassagne stand
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