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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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»Vagabunden« waren etwa 400.000 Dauerarbeitslose, die Unterkunft und Arbeit suchten, bettelten und Verbrechen begingen. Diese Herumtreiber waren ein internationales Phänomen, das den Europäern Angst einjagte – sie brachten die Landstreicher mit allen sozialen Übeln in Verbindung.
    Bettler hatte es in Europa immer gegeben, doch die rasche Modernisierung hatte gewaltige wirtschaftliche Veränderungen ausgelöst und das Problem enorm vergrößert. Die Mechanisierung der Landwirtschaft hatte zu einem weltweiten Preisverfall geführt und in den Neunzigerjahren zu einem regelrechten Kollaps. Frankreich wurde besonders schwer getroffen, weil die Weinberge damals von Rebläusen befallen waren, die eine Art Beulenpest der Weinindustrie darstellten. Ganze Dörfer leerten sich. Tausende von Familien verloren ihre Arbeit und ihr Land und strömten nach Paris, Lyon, Grenoble und in andere Städte, wo sie auf einen Neuanfang hofften. Viele waren auf Unterstützung von öffentlicher Seite angewiesen. Anstatt aber diese Hilfe auszubauen, um die Not zu lindern, verschärften viele Stadträte die Bedingungen für die Zuwanderung, weil sie nicht noch mehr Vagabunden anlocken wollten. Viele forderten sogar, die Sozialhilfe abzuschaffen, weil sie Faulheit fördere.
    Mitte der 1890er-Jahre wanderte etwa ein Prozent der Bevölkerung Frankreichs mittel- und wurzellos umher. Zu dieser Gruppe zählten auch geistig Kranke, die aus den überfüllten Anstalten stammten, vereinsamte ältere Menschen und alle möglichen anderen, die niemanden hatten, der sich um sie kümmerte.
    Im Jahr 1899 veröffentlichte der Untersuchungsrichter Émile Fourquet eine Monografie über Vagabunden, die sich auf Gespräche mit Dutzenden von Menschen in seiner Obhut stützte. Er war humaner als manche seiner Kollegen und verglich diese Leute nicht mit einer ansteckenden Krankheit, sondern mit Zugvögeln, die dem Wetter und dem Erntezyklus folgten, um Unterschlupf und Essen zu finden. Fourquet unterschied mindestens zwei Migrantengruppen, deren Zickzackrouten sich kreuzten und überschnitten. Eine Gruppe verbrachte den Winter in Südfrankreich und wanderte das Rhonetal hinauf, wenn das Obst und Gemüse erntereif war. Die andere Gruppe blieb im Winter in der Bretagne, wo der Golfstrom die Winter milderte, dann wanderte sie in das Gebiet nördlich von Lyon, um Getreide und Gemüse zu ernten. Im Spätsommer zog diese Gruppe nach Norden in die Normandie und nach Belgien und fand Arbeit in kleinen Fabriken und bei der Zuckerrübenernte.
    Im August trafen sich beide Gruppen südlich von Paris zur Getreideernte, danach wanderten sie weiter in die Weingärten des Rhonetals und Südfrankreichs. Im Oktober zogen sie in die Provence, um Kastanien und Oliven zu ernten. Im Spätherbst durchquerten viele dieser Menschen das Land und wanderten zurück in die Bretagne, während andere den Weg nach Lourdes an der spanischen Grenze einschlugen. Wer vor Einbruch des Winters zu schwach für den Fußmarsch nach Süden war, ließ sich verhaften, um die übliche drei- bis sechsmonatige Freiheitsstrafe in einem der speziellen Bettlergefängnisse des Landes zu verbringen. Dort musste wenigstens niemand verhungern oder erfrieren.
    Fourquets Beschreibung war weder präzise noch umfassend – immerhin warf er Hunderttausende von Migranten in einen Topf, dabei gab es manche mit Familie, einige waren alt, andere jung und viele geisteskrank. Ihm fiel auf, dass Vagabunden bestimmte Orte nicht wegen des Klimas bevorzugten, sondern wegen der Einstellung der Bürger. Die Einwohner mancher Regionen, zum Beispiel des Dauphiné und des Savoyen – der bergigen Gebiete nahe der Schweizer Grenze –, waren für ihre Gastfreundlichkeit bekannt, während andere, etwa die Bewohner der Touraine mit der Hauptstadt Tours, sich eher ablehnend verhielten.
    Vacher schrieb über diese Unterschiede in einem Brief an Louise:
    Vor zwei Jahren war ich mit einem Paar Stiefel, die ich für 40 Sous gekauft hatte, in der Bretagne, wo ich alles sah … und in der Normandie große Städte und üppige Felder und Apfelwein, der genauso gut war wie in der Bretagne. Ich war auch in Marne [einer Region östlich von Paris], wo die Leute wirklich gläubig und menschlich sind … und vor allem im Savoyen, wo sie besonders treu und bescheiden sind. Dieses Jahr sah ich auch die Touraine, die man den Garten Frankreichs nennt. Aber keine Spur von Menschlichkeit … Ich bin nicht der einzige Reisende, der diese Beobachtung gemacht

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