Der Wandermoerder
später davon überzeugt, dass Gott ihn gerettet hatte. Und schon in jungen Jahren wollte er Priester werden. Als er zehn Jahre alt war, machte seine Klasse einen Ausflug zu einer Kirche in einem Nachbardorf. Der Lehrer entfernte sich für ein paar Minuten von der Gruppe, um einige Freunde zu begrüßen. Als er zurückkam, hatte Joseph die Klasse bereits in die Kirche geführt und auf die Bänke setzen lassen. Dann hielt er eine Predigt.
Im folgenden Jahr leckte ein Hund, den die Familie für tollwütig hielt, Joseph ab. Da seine Mutter panische Angst bekam, besorgte sie sich ein Volksheilmittel und gab es dem Jungen zu trinken. Es ist unklar, was der Trank genau enthielt, und vielleicht schadete er Joseph auch gar nicht, aber in den Monaten danach veränderte er sich. Mit 14 zog er einmal mit einem seiner Brüder eine Schubkarre. Da dieser sich seiner Meinung nach nicht genügend anstrengte, begann er ohne Vorwarnung, ihn zu würgen, und hätte ihn wahrscheinlich getötet, wenn nicht ein Nachbar eingegriffen hätte. Ein andermal hatten Klassenkameraden einen Stolperdraht über einen Weg gelegt, und Joseph fiel darüber. Anstatt aber über den Streich zu lachen, lief er weg, holte ein Gewehr und begann um sich zu schießen.
Als Fünfzehnjähriger verließ er schließlich sein Dorf und schloss sich den Maristenbrüdern in Saint-Genis-Laval an. Die asketische Atmosphäre im Kloster gefiel ihm, und er war sehr erfreut, als seine spirituellen Brüder seine schöne Handschrift lobten. Einige Male schickten sie ihn zum Unterrichten in andere Gemeinden. Zwei Jahre später forderten sie ihn jedoch auf, die Gemeinschaft zu verlassen. Erst viel später, als ein Zeitungsreporter nach dem Grund dafür fragte, erklärten sie, dass er unfähig gewesen sei, »gewissen Versuchungen des Fleisches zu widerstehen«. Man hatte ihn bei sexuellen Übergriffen gegen seine Kameraden erwischt.
Der achtzehnjährige Vacher kehrte nun in seine Heimatstadt Beaufort zurück und fing wieder an, auf Bauernhöfen zu arbeiten. Im Juni 1888 versuchte er, einen zwölfjährigen Jungen zu vergewaltigen, doch ein Nachbar verhinderte es. Daraufhin floh er nach Grenoble, wo er bei einer Schwester wohnte und in einem Restaurant arbeitete. Nach nur einem Monat Arbeit wurde er wegen einer Geschlechtskrankheit in ein Krankenhaus eingewiesen. »Wir nannten ihn den Jesuiten«, erinnerte sich ein anderer Patient später und begründete dies mit Vachers religiösem Getue. »Er war hinterhältig und versuchte immer wieder, die Nonnen zu betatschen.« Nach zweimonatiger Behandlung zog er zu einer anderen Schwester in ein Dorf, das knapp 50 Kilometer entfernt lag, aber ihr Mann warf ihn nach sechs Monaten hinaus.
Als Josephs Krankheit wieder aufflackerte, meldete er sich selbst im Krankenhaus Antiquaille in Lyon an. Im Rahmen der Therapie, die zwei Monate dauerte, entfernten die Ärzte einen Teil seines linken Hodens. Anschließend reiste Vacher nach Genf, wo er mehrere Woche bei einem Bruder wohnte, ehe auch dieser ihn wieder wegschickte. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, sagte er zu seinem Bruder. »Mir ist, als wäre ich von etwas Bösem besessen. Ich fürchte, dass ich etwas anstelle, wenn ich jemandem begegne.«
In den folgenden Jahren wanderte er von Stadt zu Stadt und suchte Arbeit bei Bauern. 1889 besuchte er die Weltausstellung in Paris, wo er wie zig Millionen andere Menschen aus der ganzen Welt gewiss über den neu erbauten Eiffelturm staunte, das höchste Bauwerk der Welt, vielleicht auch über die Maschinenhalle, den weltgrößten umbauten Raum, dessen Konstruktion aus Glas und Stahl über den gewaltigen Dampfmaschinen und Dynamos zu schweben schien. Möglicherweise schlenderte er auch durch die beliebte Kairo-Ausstellung – eine rekonstruierte Straße der ägyptischen Hauptstadt – oder durch die Dörfer, die zu Ehren der neuen Wissenschaft der Anthropologie geschaffen worden und mit »Primitiven« aus den Kolonien besiedelt worden waren. Es kann sogar sein, dass Vacher einen Blick in die Ausstellung über die Kriminalanthropologie warf, wo Alexandre Lacassagne, Cesare Lombroso und andere Experten Schädel, Tätowierungen und Schaubilder zeigten und versuchten, damit die steigende Verbrechensrate zu erklären.
Aber solche Vergnügungen waren nur von kurzer Dauer. Im Allgemeinen fristete er ein eher mühevolles Dasein: Er wanderte zu einem Bauernhof, bekam eine Arbeit zugewiesen und benahm sich bald so aggressiv oder verrückt, dass man
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