Der Wandermoerder
für die bürgerlichen Tugenden: Ordnung, Bildung und Würde. Er hatte feste Gewohnheiten, las viel, wollte der Gesellschaft dienen und legte Wert auf Selbstachtung und Selbstbeherrschung. Die beiden befanden sich an entgegengesetzten Enden des menschlichen Spektrums wie die Hauptfigur in dem damals populären Roman Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde .
Lacassagne hatte viele Angehörige und Freunde. Dennoch hatte kaum eines der über 12.000 Bücher und Schriftstücke, die er hinterließ, einen persönlichen Charakter. Er ging in seiner wissenschaftlichen Arbeit auf und schrieb bescheiden und zurückhaltend darüber. Trotzdem finden wir zwischen den Zeilen seiner wissenschaftlichen Abhandlungen Hinweise auf seinen Charakter und sein Leben, vor allem in den mitfühlenden und herzlichen Nachrufen auf verstorbene Kollegen und in den Zeugnissen seiner Kollegen und ehemaligen Studenten. Als im Jahr 1901 eine Feier anlässlich seiner Aufnahme in die Ehrenlegion stattfand, versammelten sich mehr als 70 Kollegen und ehemalige Studenten im »Restaurant Maderni« in Lyon, wo einer nach dem anderen in langen, formellen Tischreden den »lieben Meister« für seine wissenschaftlichen Leistungen, seine Arbeitsmoral, seine Bescheidenheit und Unabhängigkeit, seine Lehre und seinen Rat pries. Für sie war er der Vater einer intellektuellen Familie.
Sein häusliches Leben wurde geprägt von Zufriedenheit, harter Arbeit und den Vergnügungen eines bürgerlichen Intellektuellen. Im Jahr 1882, zwei Jahre nach seiner Ankunft in Lyon, heiratete er Magdeleine Rollet, die Tochter eines bekannten Professors für Hygiene. Sie gebar ihm zwei Söhne und eine Tochter: Antoine, Jean und Jeanne. Die Söhne wurden international angesehene medizinische Forscher. Antoine, ein bahnbrechender Onkologe, behandelte Sigmund Freud, als dieser Rachenkrebs im Endstadium hatte. Die Lacassagnes lebten in einer Wohnung in Lyon und zogen im Laufe der Jahre zweimal um, jeweils in eine vornehmere Gegend. Die Sommer verbrachten sie im Ferienhaus der Familie nordwestlich der Stadt am Ufer der Loire. Das Haus war ein traditioneller Steinbau, hatte ein rotes Ziegeldach und stand auf einer Anhöhe, die von alten Birken, Apfelbäumen und Kirschbäumen umgeben war. Vor dem Haus befand sich ein idyllischer kleiner Brunnen mit dekorativer Kurbel und einer Glocke, die Gäste zum Essen rief. Der Türklopfer vermittelte Besuchern einen Eindruck von Lacassagnes makabrem Humor: Er war ein Bronzeabguss der linken Hand einer Verbrecherin. Und das war nicht der einzige Gegenstand dieser Art. In der Wohnung in Lyon besaß er ein Essservice, auf dem Tätowierungen von Kriminellen reproduziert waren. So konnte es passieren, dass ein Gast bei besonderen Anlässen sein bœuf bourguignon verspeiste und dabei womöglich die Inschrift »Tod den Regierenden« auf dem Tellerboden entdeckte.
Im Landhaus bedeckten Bücher, Papiere und Fotos die Wände und jede ebene Fläche. Wissenschaftliche Abhandlungen kämpften mit Lyrik, Philosophie, Literatur und den Zeichnungen der Kinder um Platz. Es gab Alben mit sepiafarbenen Fotos von Familienurlauben und Erinnerungspostkarten von der Pariser Weltausstellung. Im oberen Flur hingen zwei Porträts der Familienhunde Tibio und Péroné (»Schienbein und Wadenbein«), wohl so genannt, weil sie den Leuten oft zwischen die Beine sprangen. Im ersten Stock befand sich außerdem die sogenannte Galerie, ein langer, schmaler Raum mit hoher Decke, einer Fensterwand mit Blick auf den Fluss und drei mit Fotos bedeckten Wänden. Viele Schnappschüsse dort bildeten Lacassagne ab, wie er im Laufe der Jahre immer kahler und fülliger wurde, aber stets ein Lächeln unter seinem Walrossschnurrbart hatte. Ein Foto zeigte ihn und seine Familie beim Picknick am Fluss, auf anderen saßen alle in einem Ruderboot oder standen mit Gästen an der hinteren Mauer. Es gab auch ein Foto des lustigen Onkels Louis, der sich nach einem Besuch des ägyptischen Pavillons auf der Weltausstellung als arabischer Scheich verkleidet hatte und eine Wasserpfeife rauchte. »Ich rauche nur Nil«, lautete die handschriftliche Bildunterschrift dazu. Ein Schaubild, das Lacassagne gezeichnet hatte, illustrierte Antoines intellektuelle Entwicklung: Eine nach oben gekrümmte Linie veranschaulichte, dass der Junge als Kleinkind 85 Zentimeter und nach dem Abitur 180 Zentimeter groß war. Zeitungskarikaturen stellten Lacassagne bei seiner berühmten Autopsie von Gouffé dar. Ein anderes
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