Der Wandermoerder
Foto, auf einer Konferenz geknipst, zeigte Lacassagne mitten unter bärtigen Kollegen mit Stroh- oder Filzhüten sowie einen Mann in der letzten Reihe, der mit seinem Schirm fröhlich auf ein Schild deutete, auf dem »section d ’ anthropologie« stand. Das einzige traurige Objekt in der Sammlung war ein großes, schwarz gerahmtes Foto seiner Frau Magdeleine, die in ihrer bis zum Hals zugeknöpften schwarzen Jacke nachdenklich und ernst aussah. Eine Bronzeplakette auf dem Rahmen nannte ihre Lebensspanne: 1856–1893. Ihr vorzeitiger Tod war einer der wenigen schweren Schicksalsschläge in Lacassagnes Leben.
Die eigene Identität und der Platz in der Gesellschaft waren nicht nur in der Belle Époque und in der viktorianischen Ära von größter Bedeutung, sondern auch in der Kriminologie – sie waren sozusagen die Grundsteine für die junge Wissenschaft und in Lacassagnes Institut ein Dauerthema. Ihre Bedeutung war offensichtlich: Ohne klare Identifizierung des Opfers und des Täters konnte die Staatsanwaltschaft nicht richtig arbeiten oder groteske Justizirrtümer verhindert werden.
Nie wurde dieses Prinzip lebhafter demonstriert als im berüchtigten Fall Tisza-Eslar, den Lacassagnes Wiener Kollege Professor Eduard von Hofmann löste. Er begann im April 1882 im Dorf Tisza-Eslar in Österreich-Ungarn, als ein 14 Jahre altes Hausmädchen namens Esther Solymossy plötzlich verschwand. Nachdem man sie einen Monat lang vergeblich gesucht hatte, begannen die Einwohner die Juden im Dorf zu verdächtigen. Von Gerüchten und Vorurteilen angestachelt, entschied der zuständige Untersuchungsrichter, die Juden hätten Esther umgebracht und ihr das Blut abgenommen, um ungesäuertes Brot für das Passahfest zu backen. 5 Zusammen mit seinen Männern sorgte er auch für Beweise, indem er mehrere Kinder so lange einsperrte und quälte, bis eines von ihnen, der geistig minderbemittelte Sohn des Rabbbinergehilfen, seinen Vater und mindestens ein Dutzend andere jüdische Bürger belastete.
Einen Monat später fand man eine Leiche im Fluss. Sie trug Esthers Kleider, hatte aber keine sichtbaren Wunden. Falls es sich um Esther handelte, musste sie weit entfernt vom Dorf gestorben sein, was die Juden entlastet hätte. In der Hoffnung auf ein ihm genehmes Ergebnis beauftragte der Untersuchungsrichter zwei ortsansässige Ärzte damit, die Leiche zu identifizieren. Die Ärzte, die nie eine kriminalistische Autopsie durchgeführt hatten, waren möglicherweise von den Vorurteilen des Untersuchungsrichters beeinflusst. Auf jeden Fall kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Leiche aus dem Fluss unmöglich die eines vierzehnjährigen Mädchens sein konnte. Sie begutachteten die »allgemeine Entwicklung« des Körpers und behaupteten, die Entwicklung mehrerer Knochen – die vorderen Schädelknochen waren vollständig verschmolzen – deute auf eine Achtzehn- bis Zwanzigjährige hin. Außerdem merkten sie an, dass die Geschlechtsorgane derart geschwollen seien, dass die Frau häufig Geschlechtsverkehr gehabt haben müsse, was bei einem vierzehnjährigen Kind äußerst unwahrscheinlich sei. Die Haut an den Händen und Füßen war zart und weiß, ganz im Gegensatz zur Haut eines Mädchens, das harte manuelle Arbeit leistete.
Die Nachricht vom Mord führte in Budapest und anderen Städten mit jüdischen Gemeinden zu Ausschreitungen. Es roch nach Pogromen. In der Zwischenzeit bat ein liberaler Parlamentsabgeordneter zwei junge Gerichtsmediziner der Universität Budapest, die Leiche zu exhumieren, zu sezieren und einen Bericht an Professor von Hofmann zu schicken. Der Professor hatte drei Lehrbücher über Gerichtsmedizin geschrieben und war nach dem verheerenden Brand im Wiener Ring-Theater im Jahr 1881 international bekannt geworden, als er das Gewirr aus Knochen und Zähnen ordnete und die Überreste von über 300 Opfern identifizieren konnte.
Von Hofmann verglich den neuen Bericht einige Wochen lang mit dem ersten und führte eigene Laboruntersuchungen durch. Dann kam er zu dem Schluss, dass die Autopsie der beiden ersten Ärzte von Fehlern strotzte und daher unbrauchbar war. Ein Fehler von vielen war die Behauptung, die Schädelknochen eines Menschen würden erst im Alter von 19 oder 20 Jahren verschmelzen. In Wirklichkeit geschieht dies mit zwei Jahren. Von Hofmann schrieb die vaginale Schwellung des Opfers nicht einer sexuellen Aktivität zu, sondern dem längeren Aufenthalt im Fluss – das weiche Gewebe war im Wasser angeschwollen. Von
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