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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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Hofmann hatte genug Wasserleichen gesehen, um dies zu wissen. Die zarte Haut an den Händen und Füßen des Opfers war auch nicht auf wenig Arbeit zurückzuführen, sondern auf den Schwund der äußeren Hautschichten aufgrund des langen Aufenthalts im Wasser.
    Von Hofmann ergänzte die Berichte durch seine Laborexperimente. Er besorgte sich drei Leichen aus dem Krankenhaus – die Verstorbenen waren 14, 18 und 20 Jahre alt gewesen – und verglich ihre Entwicklung mit der des Opfers aus dem Fluss. In jeder Kategorie, die er untersuchen oder vermessen konnte – Zähne, Abmessungen des Skeletts, einzelne Knochen –, unterschied sich die Leiche aus dem Fluss deutlich von den Körpern der beiden jungen Erwachsenen, entsprach jedoch dem der Vierzehnjährigen. Die Flussleiche musste also die von Esther sein.
    Als der Fall 1883 vor Gericht kam, widerlegte von Hofmanns Bericht die Darstellung der Anklage. Die Beschuldigten wurden daraufhin auf freien Fuß gesetzt, und die Pogrome blieben aus.
    Lacassagne hielt diesen Fall für so bedeutend, dass er den Bericht seines Kollegen in der ersten Ausgabe der Archives de l’anthropologie criminelle veröffentlichte, obwohl der Prozess drei Jahre früher stattgefunden hatte. Von Hofmann hatte einen Grundsatz befolgt, den Lacassagne unterstützte: Jedes physiologische Detail, und sei es noch so klein, ist wichtig, weil selbst winzige Indizien in ihrer Summe die Identität eines Toten enthüllen können.
    In dieser ersten Ausgabe veröffentlichte er zudem eine Abhandlung seines Freundes und Kollegen Alphonse Bertillon, der an einem anderen Aspekt der Identifizierung arbeitete und dadurch die Arbeit der Polizei modernisierte. Bertillon, aus dessen Familie einige wissenschaftliche Koryphäen hervorgegangen waren, hatte zunächst als Versager gegolten. Sein Vater, Louis-Adolphe Bertillon, war Gründungsmitglied der Pariser Anthropologischen Gesellschaft, und sein Bruder Jacques war ein bekannter Arzt und Medizinstatistiker. Trotz dieses eindrucksvollen Stammbaums entwickelte sich Alphonse wenig verheißungsvoll. Er studierte zwar eine Weile Medizin, übernahm dann verschiedene Jobs in England und Frankreich und wurde im Alter von 26 Jahren als niedriger Beamter bei der Pariser Polizei eingestellt, vor allem weil sein Vater sich für ihn eingesetzt hatte. In einem düsteren Kellerbüro schwitzte er nun im Sommer und fror im Winter, während er Tausende von Beschreibungen bekannter Verbrecher auf Registerkarten kopierte.
    Auch damals wurden die meisten Verbrechen von relativ wenigen Tätern begangen. In Frankreich wurden Ersttäter meist milde bestraft, um ihre Rehabilitation zu fördern. Wiederholungstäter erhielten dann jedoch lange Gefängnisstrafen oder kamen auf die Teufelsinsel. Früher hatte man Häftlinge mit Brandzeichen versehen, doch als diese Praxis in den Dreißigerjahren als inhuman abgeschafft wurde, konnten rückfällige Verbrecher ihre Identität verbergen, indem sie ihren Namen, die Haarfarbe oder den Bart veränderten. Als Reaktion darauf legte die Polizei riesige Sammlungen von Karteikarten und Fotos an, geordnet nach Geburtsorten und Namen. Da die Verbrecher jedoch falsche Angaben machten, war das ganze System nutzlos. In seiner Verzweiflung bot der Polizeichef von Paris jedem Beamten, der einen Wiederholungstäter erkannte, eine Belohnung von zehn Francs an.
    Allein in seinem Büro mit seinen Kartenstapeln konnte Bertillon einfach nicht aufhören, über die Informationen nachzudenken, die er tagtäglich notierte. Er war in einem Haus voller Messschieber und technischer Instrumente, botanischer Präparate und wissenschaftlicher Diskussionen aufgewachsen. Einer der Mentoren seines Vaters, der belgische Statistiker Adolphe Quetelet, hatte ihm erklärt, dass jeder menschliche Körper einzigartig sei und die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Erwachsene auch nur ein Körpermaß gemeinsam hätten, eins zu vier betrage. Vielleicht gab es ja einen Weg, diese Quote weiter zu verkleinern, also die Identität eines Menschen genauer zu bestimmen?
    Bertillon überlegte. Wenn die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen ein einziges Körpermaß, zum Beispiel die Größe, gemeinsam hatten, eins zu vier betrug, dann würde das Hinzufügen weiterer Maße – etwa Körpergröße plus Länge des Kopfes – die Quote noch einmal um ein Viertel reduzieren, sodass sie dann eins zu 16 betragen würde. Ein drittes Maß, beispielsweise die Länge des linken Fußes, würde die Quote erneut um ein

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