Der Wandermoerder
Dieses Instrument war ein Rahmen aus Parallelogrammen, mit denen man die Umrisse von Objekten und Dokumenten festhalten konnte. Außerdem dachte er sich ein Verfahren aus, mit dem er unsichtbare Fußspuren auf hartem Boden sichtbar machen konnte. Er bestrich verdächtige Stellen mit Silbernitrat (das auch für Fotoplatten benutzt wurde) und ließ mehrere Tage lang Licht darauf einwirken. Das Salz im Fußschweiß reagierte mit der Chemikalie, und ein Abdruck wurde sichtbar.
Die Deutung von Fußabdrücken wurde zu einer raffinierten Kunst. Ermittler bestimmten so Größe, Statur und den emotionalen Zustand von Menschen an Tatorten (aufgeregte Menschen gingen beispielsweise schneller und machten größere Schritte). Gross stellte fest, dass ein tieferer Fußabdruck nicht unbedingt auf Übergewicht zurückzuführen war. In normalem, festem Boden machten 20 Kilogramm mehr oder weniger keinen Unterschied, was die Tiefe der Fußspur anbelangte. Gross wies jedoch darauf hin, dass die Zehen bei Übergewichtigen oft nach außen zeigten. Ein deutscher Experte behauptete, nach außen zeigende Fußspitzen sprächen für einen »Mann von Rang«, nicht für einen gewöhnlichen Mann. Französische Kollegen widersprachen ihm jedoch.
Fingerabdrücke wurden für die Polizeiarbeit erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bedeutsam, obwohl ihre charakteristischen Merkmale in England, Indien und Argentinien bereits erforscht wurden. Bertillon begann, Fingerabdrücke in seine anthropomorphen Karten aufzunehmen, änderte seine Klassifikationsmethode allerdings nicht. Zudem arbeitete er immer häufiger mit Fotos. Er entwickelte eine Technik, die »metrische Fotografie« hieß. Dabei montierte er eine Kamera auf einen großen Dreifuß, sodass sie auf den Tatort hinabschaute, dann grenzte er das Areal mit Messbändern ab. Später baute er Rahmen mit Maßeinheiten, in die er Fotos von Tatorten einfügte. Auf diese Weise, glaubte er, könne er das Problem lösen, dass »das Auge nur sieht, was bereits im Kopf ist«.
Wenn man bedenkt, wie viele Methoden Lacassagne und seine Kollegen anwandten, muss man sie einfach mit einem fiktiven Detektiv vergleichen, der ihr Zeitgenosse war. Arthur Conan Doyle schrieb 1887 den ersten Roman über Sherlock Holmes, Eine Studie in Scharlachrot , und blieb dem Detektiv 40 Jahre lang treu – obwohl er 1893 versuchte, ihn am Reichenbach-Wasserfall umzubringen. Im selben Jahr erschien das Buch von Hans Gross. Holmes faszinierte die realen Ermittler. Lacassagnes Schüler Edmond Locard sagte zum Beispiel, dass neben seinem Mentor die Geschichten über Sherlock Holmes seine Berufswahl entscheidend beeinflusst hätten. Doyle ließ sich seinerseits von Dr. Joseph Bell inspirieren, seinem Professor an der Universität Edinburgh, dessen Fähigkeiten als medizinischer Diagnostiker er auf seinen Amateurdetektiv transferierte. Auch andere zeitgenössische Experten dienten ihm als Vorbild. Holmes erwähnt Bertillons Arbeit mehrere Male. In der Kurzgeschichte Der Flottenvertrag zitiert Watson aus einem Gespräch mit Holmes: »Ich erinnere mich daran, dass er über Bertillons Maßsystem sprach und seiner enthusiastischen Bewunderung für den französischen Gelehrten Ausdruck gab.« Im Hund von Baskerville berichtet Watson von einem Gespräch zwischen einem Klienten und Holmes:
»Ich bin davon überzeugt, dass Sie der zweitbeste Experte in Europa sind …«
»Ach? Darf ich fragen, wer die Ehre hat, der beste zu sein?«, fragte Holmes etwas schroff.
»Ein Mann mit scharfem wissenschaftlichen Verstand dürfte wohl die Arbeit von Monsieur Bertillon sehr bewundern.«
»Wäre es dann nicht besser, ihn zu konsultieren?«
»Sir, ich sagte: für den scharfen wissenschaftlichen Verstand. Aber für einen praktisch denkenden M ann sind Sie nach allgemeiner Ansicht unerreicht. Ich hoffe, Sir, dass ich Sie nicht unabsichtlich …«
»Nur ein bisschen«, sagte Holmes.
Lacassagne bewunderte zwar das Werk von Conan Doyle, doch wie seine Kollegen war er skeptisch, was Holmes’ Methoden und ihre irreführende Wirkung auf die Öffentlichkeit betraf. Holmes arbeitete mit atemberaubendem Tempo, äußerte niemals Zweifel und präsentierte seine Ergebnisse mit »mathematischer« Gewissheit (ähnlich wie in der modernen Fernsehserie CSI ). Im Gegensatz dazu konnten Lacassagnes Untersuchungen wochenlang dauern, und er legte großen Wert darauf, sich bis zum Abschluss der Ermittlungen gerade nicht festzulegen. Berühmt ist seine Aussage
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