Der Wandermoerder
Kehlkopf war gebrochen, der Schilddrüsenknorpel war unten und in der Mitte eingerissen, und der Ringknorpel war ebenfalls beschädigt. Deshalb ging Lacassagne von zwei Mördern aus – denn zwei Hände hätten das Opfer nicht festhalten und gleichzeitig die vielen Brüche verursachen können. Anzeichen für eine Sexualstraftat gab es nicht. Die rechte Seite des Kopfes war eine einzige enorme Beule, die Lacassagne auf Schläge mit der Flasche zurückführte. Die linke Kopfseite wies reziproke Brüche auf, was darauf hindeutete, dass die linke Seite des Gesichts auf dem Boden gelegen hatte, als auf den Kopf eingeschlagen worden war. Die Flasche war an einer Seite blutiger als an der anderen. Wahrscheinlich war sie die Mordwaffe, obwohl keine Fingerabdrücke zu entdecken waren.
Zunächst fand Lacassagne keine Hinweise auf die Täter. Doch als er den Darminhalt untersuchte, fand er ein fadenförmiges etwa 1,25 Zentimeter langes weißes Gebilde. Als er den Darminhalt auflöste, kam ein weiteres Dutzend davon zum Vorschein. Professor Lortet, ein Experte für Parasitologie, identifizierte die Gebilde als Madenwürmer, ziemlich häufig vorkommende Darmparasiten.
Inzwischen hatte die Polizei sechs Verdächtige festgenommen, Mitglieder einer »Apachenbande«, die in Madame Foucherands Umgebung aktiv war. Lacassagne erhielt die Erlaubnis, ihre Abfalleimer zu untersuchen. »Das führte zu nichts«, berichtete er – die Verdächtigen hatten Brot und andere Speisereste hineingeworfen und den Inhalt dadurch verschmutzt. Also ging er ins Gefängnis und entnahm den Verdächtigen mit langen Tupfern Proben des Darminhalts, die er auf Objektträger strich und unter dem Mikroskop untersuchte. In der Probe des Verdächtigen Annet Gaumet fand er winzige durchsichtige Scheiben, die Lortet als Eier von Madenwürmern identifizierte.
Alle sechs Festgenommenen gestanden daraufhin, in die Wohnung eingebrochen zu sein, um Madame Foucherand zu berauben. Als sie sich wehrte, schlugen sie auf die Frau ein. Gaumet und der Bandenführer Émile Nourguier waren besonders brutal. Gaumet warf die Frau nieder und würgte sie, während Nouguier sie ebenfalls am Hals packte und mit einer Flasche auf sie einschlug. Beide Täter wurden auf die Guillotine geschickt, die anderen vier erhielten eine lebenslange Gefängnisstrafe.
Am Morgen seiner Hinrichtung schickte Gaumet eine Nachricht an Lacassagne. Er sei so beeindruckt von der Macht der Wissenschaft, schrieb er, dass er sein Skelett dem Labor des Professors schenken wolle. Seither hängt es in einem Schaukasten.
Elf
Auf dem Präsentierteller
Das Dorf Truinas liegt in den wasserarmen Bergen östlich der Rhone, etwa auf halbem Weg zwischen Lyon und Marseille. Am 23. September 1895 fuhr ein Händler und Bauer namens Théodor Vache mit seinem Karren in der Nähe des Dorfes auf einem Feldweg, als er einen sonderbar aussehenden Mann hinter einer Akazie vorkriechen sah. Sein Gesicht und seine Hände waren mit Blut beschmiert. Vache beobachtete, dass der Mann versuchte, Blutflecken am Boden mit Erde zuzudecken. Er grüßte den Fremden und fragte, ob er krank sei. »Er sagte, dass er einen Unfall gehabt habe und leicht aus der Nase blute«, erinnerte sich der Mann später. »Dabei kratzte er weiter mit einer Hand in der Erde und hielt sich mit der anderen den Kopf.« Außerdem fiel Vache ein großer Landstreichersack auf, aus dem ein Knüppel ragte. Er sah dem Treiben noch kurz zu, zuckte dann mit den Schultern und fuhr weiter.
Was Vache jedoch nicht sah, war die noch warme Leiche von Aline Alaise, der sechzehnjährigen Tochter eines örtlichen Grundbesitzers, die wenige Meter neben dem Straßenrand lag. Vacher hatte sie wenige Minuten zuvor umgebracht.
Aline war am Vormittag mit ihrem Vater in ein Nachbardorf gegangen, um Eier und Käse zu verkaufen. Dann hatte sie sich allein auf den Nachhauseweg gemacht, weil sie noch putzen musste. Als Aline nicht zum Abendessen erschien, suchten ihre Eltern nach ihr. Sie entdeckten die Leiche jedoch erst am nächsten Morgen. Die Polizei fand eine Seite, die jemand aus einem Schulbuch herausgerissen hatte, das in der Nähe lag. Darauf standen die Buchstaben »M A R C«. Dann nahmen die Ermittler einen umherziehenden Boxer fest, der auf Rummelplätzen auftrat. Er hieß Auguste Marseille, und die Buchstaben seines Nachnamens schienen denen auf dem Zettel ähnlich genug zu sein, um als Indiz zu gelten. Schließlich ließ man ihn jedoch aus Mangel an Beweisen
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