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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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schließen konnte, zwängte er sich hinein, packte sie und zerrte sie in Richtung Wald. Zum Glück hörte ihr Bruder sie schreien und verjagte den Eindringling.
    Einige Tage später ging die zwölfjährige Alphonsine Derouet in einem benachbarten Dorf in die Kirche. Sie lief an einem Mann vorbei, der Zeitung las. Plötzlich fragte er sie, ob es noch weit bis zur Ortsmitte sei. Sie hatte kaum mit ihrer Antwort begonnen, als er sie an der Kehle packte und zu Boden warf. Der Wachmann ihres Arbeitgebers hörte ihre Schreie, eilte herbei und fand Alphonsine strampelnd unter einem Fremden vor, der ihre Röcke bis zur Hüfte hochgeschoben hatte. Er zerrte den Verrückten von dem Mädchen weg, ließ ihn aber nach einem Tritt ins Gesicht los, woraufhin der Angreifer entkam. Dann verständigte der Wachmann die Polizei, die herausfand, dass ein Mann, auf den die Beschreibung passte, die vorige Nacht auf einem Bauernhof verbracht und sich als Joseph Vacher, ehemaliger Novize und Feldwebel, vorgestellt hatte. Daraufhin wurde ein Suchtrupp zusammengestellt und ein Haftbefehl mit seinem Namen und seiner Beschreibung in die umliegenden Dörfer geschickt.
    Stunden später und mehrere Kilometer entfernt begegnete ein Polizist auf einem Fahrrad Vacher, der sich wieder gesammelt hatte. Als der Gendarm ihn befragte, zeigte Vacher ihm seine Papiere vom Militär. Das änderte alles. Anstatt Vacher als Verdächtigen zu betrachten, sah der Polizist, der selbst gedient hatte, in ihm einen Kameraden. Vacher erzählte ihm, dass er vor einiger Zeit einen seltsam aussehenden Vagabunden gesehen habe, und schickte den Gendarmen damit auf eine falsche Fährte.
    Als Vacher ein paar Tage später auf einem Bauernhof bettelte, kam es zu einem heftigen Kampf mit einem Wachmann. Er hatte den Hals des Mannes fest umklammert und tauchte ihn in einen mit Wasser gefüllten Graben, als mehrere Kollegen des Opfers eintrafen, Vacher überwältigten und zur Polizei brachten. Daraufhin wurde er wegen Landstreicherei und schwerer Körperverletzung zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Angesichts der Schwere der Tat und der Hysterie rund um die Vagabunden war das ein mildes Urteil. Überraschend war, dass die Justiz zwischen diesem Täter und dem Mann, den man ganz in der Nähe suchte, nie eine Verbindung herstellte. Die Polizei hatte mit Sicherheit den Haftbefehl erhalten. Während die Gendarmen im Nachbarbezirk sich auf einer wilden Verbrecherjagd befanden, hatte Vacher ein gutes Versteck gefunden – in der Höhle des Löwen.
    Was für ein Glück für ihn – aber es war etwas anderes als Glück. Denn außerhalb der großen Städte war die französische Polizei wenig kompetent (das galt übrigens auch für den Rest Europas und die USA). Große Städte hatten eigene Polizeireviere, aber auf dem Land patrouillierten nur ein paar Dorfpolizisten oder Beamte der nationalen Polizeibehörde. Die Dorfpolizisten oder gardes-champêtres waren teils Feldhüter, teils Polizeibeamte. Sie wurden von Kleinstadtbürgermeistern ernannt und waren im ländlichen Frankreich seit Jahrhunderten Tradition. Sie befassten sich mit den alltäglichen Problemen der Landbevölkerung, also mit Vandalismus, Wilderei und Wirtshausschlägereien. Viele von ihnen waren alt, schlecht bezahlt und bestechlich – also wenig hilfreich bei schweren Verbrechen. Wenn sie überfordert waren, riefen sie einen Gendarmen, einen Beamten der nationalen Polizeibehörde aus der Gegend (in Großbritannien und in den USA war in ernsten Fällen der Sheriff zuständig). Gendarmen waren im Allgemeinen fähige Leute, doch ihre Kasernen waren auf dem Land dünn gesät und standen meist an größeren Hauptstraßen.
    Schwere Straftaten blieben daher oft ungesühnt. Nur die drei größten Städte, Paris, Lyon und Marseille, hatten ständig besetzte Polizeireviere, damals eine ziemlich neue Einrichtung. Der Rest des Landes litt unter einem komplizierten Justizsystem, das sich auf ein nationales Netzwerk aus Untersuchungsrichtern stützte. Sie hatten an der Universität studiert, waren in der Regel ehrgeizig und übernahmen sowohl die Rolle des Ermittlers wie auch die eines Geschworenengerichts. Sie konnten Dorfpolizisten oder Gendarmen anweisen, Verdächtige vorzuführen, und diese auch ohne Anklage so lange verhören und einsperren, wie sie es für notwendig befanden. Oft blieben Verdächtige so lange in Haft, bis sie ein Geständnis ablegten oder neue Beweise auftauchten, die sie entweder überführten oder entlasteten.

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