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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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frei.
    Vacher hatte die Gegend wie immer schnell verlassen. Er wanderte ins Rhonetal, überquerte den Fluss und ging dann westwärts ins gebirgige Departement Ardèche, eine raue, schöne Region mit steilen Felszungen und Klippen, kümmerlichen Hochwäldern und hohen, schrägen Wiesen mit atemberaubender Aussicht. Wer dort wanderte, musste ebenso viel klettern wie gehen. Die winzigen Weiden waren kaum groß genug, um die sehnigen Ziegen und Schafe zu ernähren. Auf einer solchen Wiese hütete sechs Tage nach dem Mord an ­Alaise ein 14 Jahre alter Hirte namens Pierre Massot-Pellet zusammen mit seinem Hund seine Herde. Pierre kümmerte sich an Donnerstagen und Sonntagen um die Schafe, an den anderen Wochentagen ging er zur Schule.
    Wenn das Wetter in den Bergen ruhig und der Morgen still ist, wirken die Felsen bisweilen wie eine Echokammer, sodass man auch weit entfernte Geräusche hören kann. Weit unten am Berghang konnten daher andere Hirten Pierre wie üblich fröhliche Lieder singen hören. Sehen konnten sie ihn nicht. Doch plötzlich erklangen zwei schreckliche Schreie, die im Tal widerhallten, danach Hundegebell, und dann herrschte tiefe, beängstigende Stille. Einige Zeit später wanderten ein paar von Pierres Schafen allein talwärts.
    Als Pierre nicht zum Mittagessen erschien, schickte sein Arbeitgeber einen anderen Jungen zu ihm hinauf, der Pierres verstümmelte Leiche hinter einem Felsbrocken fand.
    Morellet, der örtliche Untersuchungsrichter, fand, dass das Verbrechen den Morden an Victor Portalier und Aline Alaise ähnelte. Doch die Bürger reagierten wie nach dem Mord an Augustine Mortureux, den sie zu Unrecht Eugène Grenier in die Schuhe geschoben hatten, und hatten schnell einen Schuldigen ausgemacht, der aber überhaupt nichts mit dem Verbrechen zu tun hatte: Bernardin Bannier, einen sturen, abweisenden vierundfünfzigjährigen Bauern und Vater von vier Kindern, der in der Stadt politisch aktiv war.
    Politiker hatten in diesen isolierten kleinen Dörfern einige Feinde, und darum hagelte es anonyme Beschuldigungen. Banniers heftigster Ankläger war ein Mann namens Chevalier, ein politischer Gegner, der behauptete, dass Bannier verdächtig sei, weil seine Weiden an den Tatort grenzten. Die Vorwürfe erreichten ein derartiges Ausmaß, dass die Behörden sich schließlich verpflichtet fühlten, Bannier ein paar Woche lang einzusperren. Aus Mangel an Beweisen mussten sie ihn letztlich aber freilassen.
    Danach ging es Bannier allerdings noch schlimmer. Denn die Einheimischen waren empört darüber, dass man einen »Schuldigen« davonkommen ließ, und übten Gerechtigkeit auf ihre Weise aus: Sie machten dem Sündenbock das Leben schwer. Nachbarn überschütteten ihn mit Verwünschungen, wann immer sie ihn sahen. Andere warfen Steine nach ihm und seiner Familie. In der Seidenfabrik, in der seine Frau und eine seiner Töchter arbeiteten, wollte niemand mehr neben ihnen stehen. Und später drohten sogar alle Beschäftigten dem Fabrikbesitzer mit Kündigung, wenn er die Banniers nicht hinauswerfen würde. (Die Frau und ihre Tochter fanden dann eine andere Beschäftigung.)
    Fast jeden Abend versammelte sich eine wütende Menge vor Banniers Tür. Eines Nachts drangen Betrunkene in seine Küche ein, verschlangen alles, was im Schrank lag, und zündeten ein Feuer an. Eines Sonntags pflanzten einige seiner Nachbarn einen Baum vor seiner Haustür und schmückten ihn mit den Innereien eines Ziegenkitzes sowie mit einem blutgetränkten Bettlaken, einem Messer und einem Schild auf dem »Tod dem Mörder!« stand.
    Das alles geschah, obwohl der Bürgermeister und die Staatsanwaltschaft wiederholt darauf hinwiesen, dass Bannier nicht der Täter sein konnte. Sie belegten Chevalier sogar wegen falscher Beschuldigung mit einer Geldstrafe, aber er machte weiter. Einmal fragte Morellet den Verfolgten, ob es nicht einfacher wäre umzuziehen. »Wohin soll ich denn gehen?«, erwiderte Bannier. »Ich bin nicht reich. Ich habe nur zwei kleine Grundstücke und meine Herde. Und in meinem Alter ist kein Neuanfang mehr möglich.«
    »Man sollte meinen, dass solche wilden, barbarischen Kundgebungen in eine frühere Zeit gehören«, schrieb ein Journalist namens Laurent-Martin. »Es ist unglaublich, Derartiges mitten im Frankreich des 19. Jahrhunderts zu erleben!«
    Doch Frankreich, Europa und Amerika waren um die Jahrhundertwende keineswegs durchgängig modern. Das Leben auf dem Land schien Jahrhunderte hinter dem Großstadtleben

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